Wir wollen Freiheit
allerdings wenig.
Der Frust über die Militärregierung wächst weiter. Am 9. März stürmt die Militärpolizei den Tahrir-Platz, wo mehrere Hundert Jugendliche inzwischen wieder zelten. Viele Aktivisten werden verhaftet und berichten anschließend von Misshandlung und Folter. Einige Frauen werden dabei zum Jungfräulichkeitstest gezwungen. Das Militär streitet solche Vorwürfe ab. Das Volk solle sich davor hüten, Gerüchten zu glauben, die darauf abzielten, einen Keil zwischen Volk und Militär zu treiben, so Mahmoud Schahin, einer der führenden Generäle. Der Fall ist jedoch noch nicht erledigt. Mehrere Journalisten und Blogger, die ihn aufgreifen, müssen sich vor dem Militärstaatsanwalt verantworten. Wegen Verleumdung. Dann bringt ein CN N-Bericht neuen Schwung in die Affäre: Ein General hat der Reporterin gestanden, solche Jungfräulichkeitstests veranlasst zu haben: »Diese Mädchen waren nicht solche wie deine Tochter oder meine«, rechtfertigt er sich: »Die haben auf dem Tahrir-Platz gezeltet. Mit Männern Seite an Seite.« Man habe mit dem Test verhindern wollen, dass die Frauen hinterher behaupteten, die Soldaten hätten sie vergewaltigt. Dahinter steht die Logik, dass eine Vergewaltigung keine Vergewaltigung ist, wenn das Opfer unverheiratet und keine Jungfrau mehr ist. Die Reporterin, welche den Bericht für CNN macht, ist übrigens keine andere als Schahira Amin, die ehemalige Moderatorin des Staatsfernsehens.
Im Rest Ägyptens wächst die Angst wieder: So viele Einbrüche und Überfälle hatte es vor der Revolution nicht gegeben und wenn, dann wurde nicht darüber gesprochen. Dafür jetzt um so mehr: Es kursieren unendlich viele Gerüchte. Es |130| lassen sich aber nicht alle Horror-Geschichten als Gerüchte abtun, denn wieder gibt es einen kleinen Kern Wahrheit. Es ist viel von der Konterrevolution die Rede. Präsident Mubarak hat immer davor gewarnt, dass Chaos ausbreche, sobald er nicht mehr regiere. Die
Baltagia
, die weiter im Dienst des alten Regimes steht, sorgt jetzt dafür, dass er Recht behält. Die Angst der Menschen lässt den Ruf nach der Rückkehr der Polizei auf die Straßen immer lauter und die Forderung nach Untersuchung der Verstrickung der Polizisten in Gewalt, Korruption und Folter immer leiser werden. Nach und nach übernehmen die Polizisten wieder das Regeln des Verkehrs und ihre anderen Aufgaben.
Besondere Sorgen macht den Ägyptern das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen. Am 4. März brennt in Atfih, einem Dorf südlich von Kairo, eine Kirche. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen einem Christen und einer Muslima, welche die Menschen aufbringt. Am nächsten Tag ziehen Christen in Kairo zum Fernsehgebäude. Jugendliche aus dem Müllsammlerviertel, einem sehr armen Christenviertel in Kairo, in dem die Menschen wenig Bildung haben, dafür jedoch sehr abergläubisch sind, wollen sich den Demonstrationen anschließen. Sie haben gehört, dass 5000 Christen aus Atfih vertrieben wurden und nun auf dem Weg ins Müllsammlerviertel seien, um Zuflucht zu suchen. Kein Wunder, dass die Menschen aufgebracht sind. Als die Jugendlichen, es sind einige Hundert, die große Straße am Rande ihres Viertels erreichen, treffen sie auf ebenso arme und ungebildete muslimische Jugendliche. Diese wiederum hatten gehört, dass die Müllsammler aus Rache für den Kirchenbrand nun Moscheen anzünden wollten. Wo diese Gerüchte herkommen, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Klar ist jedoch, dass die Gewalt zwischen den beiden Gruppen erst richtig losgeht, als die
Baltagia
auftaucht. Das Militär geht dazwischen, allerdings spät und zaghaft, und die Christen |131| sind anschließend überzeugt, dass es die Soldaten waren, die das Feuer auf sie eröffnet haben. 14 Menschen sterben.
Am 19. März findet das Referendum über eine Änderung der Verfassung statt. Sie soll den Weg zu Parteiengründungen und zu Wahlen freimachen. Zudem wird Artikel 179 gestrichen, nach dem Zivilisten vor Militärgerichten verurteilt werden können. Damit werden zwar wichtige Forderungen der Revolutionäre erfüllt, doch die Änderungen gehen den Jugendlichen nicht weit genug und viele liberale und linke Gruppen rufen dazu auf, mit Nein zu stimmen. Sie wollen eine ganz neue Verfassung.
Für viele Ägypter ist der Tag des Referendums dennoch ein Freudenfest. Lange Schlangen bilden sich vor den Wahllokalen. Zum ersten Mal gibt es Wahlen, bei denen die Stimme des Einzelnen tatsächlich etwas zählt.
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