Wir Wunderkinder
Sorgenfalten der bekümmerten Mutter aus dem Gesicht.
»Es ist schade um sie«, antwortete sie und gab sich immer noch faltig.
»Um Edith?«
»Um die Salbe. Ssum Winter könnten wir diese si-scher benötischen.«
Ich gab meiner treuen Organisatorin einen Extrakuß und öffnete wieder die Aufzugsklappe. Aber von droben kam jetzt keine Tanzmusik. Man spielte feierlich und getragen eine Hymne.
Es war nicht unsere Hymne. In Deutschland hatten wir keine mehr. Wir hatten auch kein Deutschland mehr.
Bal glacé
Es ist merkwürdig, wie belanglos und wie wenig aufschlußreich in diesen ersten Nachkriegsjahren die Aufzeichnungen von Bruno Tiches geworden sind. Beinahe kommen sie einer nüchternen Buchführung gleich: soundsoviele Töpfe gegen soundsoviel Butter, Eier, Fleisch- und Wurstwaren abgesetzt – eine Art Geschäfte freilich, über die man damals keine Bücher zu führen pflegte.
Vergleicht man diese Tagebuchnotizen mit denen aus den Kriegsjahren, die aus den blumigsten und delirierendsten PK-Berichten zusammengeschrieben zu sein scheinen, könnte man denken, mein ehemaliger Klassenkamerad sei, durch den Zusammenbruch ehrlich ernüchtert, zu einer späten Einsicht gekommen. Dem widersprechen aber die späteren Handlungen des Dahingegangenen.
Nur eine Aufzeichnung aus jener Zeit – sie trägt das Datum des 8. März 1947 – hat eine etwas persönlichere Färbung und zeigt den alten Tiches, der wohl auch der ewige Tiches gewesen ist. Es heißt da:
»Miserabler, saukalter Winter. Man muß jetzt wendiger werden. Tausche Töpfe gegen Fettigkeiten. Diese gegen Kammgarnstoffe. Diese gegen Heizmaterialien. Manchmal auch andersrum. Allmählich kommt man wieder auf den richtigen Ast. Neulich dachte ich schon, einer hätte mich erkannt. Das macht aber auch bald nichts mehr aus. Frau Kückeley habe ich ganz neu eingekleidet {50} .«
Je mehr Bruno in diesem tödlichsten Winter des Jahrhunderts aus den Hüllen seiner Zurückhaltung schlüpfte, um so tiefer verkrochen wir uns in unsere kalte Wohnhöhle.
Unser Besitz hatte sich in dieser Zeit bereits um einige Stücke vermehrt. Außer unserem wunderbar geretteten Heiligen Einkönig vom Münchner Christkindlmarkt besaßen wir jetzt eine originelle Glasvase aus Wehrmachtssanitätsbeständen – eine Bettflasche, eine sogenannte ›Ente‹, mit aufgemalten Blumenmustern –, eine Eisenvase aus einer Flakgranatenhülse mit Blumenmustern und eine buntgeblümte Blechvase, die als Gasmaskenbüchse geplant gewesen war. Um Ofenknie schien sich jedoch unsere militärische Führung nie gekümmert zu haben, und diese Tatsache wurde zu unserem Verhängnis.
Der kleine Küchenherd, der gleichzeitig unser einziger Ofen war, brannte nämlich nur bei Temperaturen bis zum Gefrierpunkt einwandfrei, bei Kältegraden mangelhaft und bei Ostwind überhaupt nicht. Heizexperten – und jeder Deutsche war damals einer! – versicherten uns, es genüge hier eben nicht der kurze, durch die Hausmauer geführte Ofenrohrstummel, sondern wir bedürften draußen eines Rohrknies, eines weiteren, etwa sechs Meter langen Ofenrohrs, das bis über das Dach hinausragen müsse, und dort eines zweiten Knies mit einem Ansatzstück. Zwei Knie –!
Man hätte uns ebensogut sagen können, wir müßten uns eine Kuh im Badezimmer halten oder eine Luxusjacht auf dem Springbrunnen des Gartens. Das ganze war reine Utopie.
Eines Tages kam ein Kleiderpaket. Schwiegervater Hansen, der von meiner Mantellosigkeit wußte, überließ mir einen seiner schönen, warmen Wintermäntel. Glücklich und gerührt packte ich ihn aus. Kirsten tat einen kleinen Aufschrei: Es war ein in der Rückennaht zertrennter, halber Mantel. Postalische Gewichtsbestimmungen hatten Papa Hansen zu dieser Heiligen-Martins-Tat gezwungen. Die andere Hälfte des dunkelblauen Mantels – eines wahren Prachtstücks – war, laut Brief, am nächsten Tage abgegangen. Leider kam sie am nächsten Tage nicht an. Sie kam zunächst überhaupt nicht an. Ich mußte weiterhin den sibirischen Schneestürmen in einer kriegerischen Tarnjacke Trotz bieten, die meine untere Körperhälfte dem Kältetod auszuliefern drohte.
Kirsten war dagegen. Sie gab französische Sprachstunden gegen Wolle und bestrickte damit meine unteren Partien. Unter meinem sportlichen Frack trug ich jetzt dicke rosa Wollhöschen, wie ich sie zuletzt in meinen Babyjahren angehabt hatte.
Am dicksten kleideten wir uns für die Nächte an. Wir verbrachten sie alle vier auf dem Fußboden
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