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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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unserer Anrichteküche, auf dem wir unsere Matratzen nebeneinandergelegt hatten.
    Entgegen allen Verboten hielten wir die Klappe zum Küchenaufzugsschacht ständig offen, um die warmen Dünste aus der Büllrumpschen Souterrain-Küche zu empfangen, die freilich auch viele schmerzliche Wunschdüfte zu uns entsandte.
    Dennoch ist mir, als hätten wir nie so viel und so oft gelacht wie in diesen Wintertagen und -nächten. Statt zu überlegen, ob wir dem Hunger- oder dem Kältetod den Vorzug geben sollten, knäulten wir uns alle vier auf unseren Matratzen zu einem Klumpen zusammen, wie eine Tierfamilie – und lachten … Über den Hunger, über die Kälte, über Herrn Büllrump, den wir aus seinem überheizten Zimmer husten und niesen hörten und dessen Geflügel- und Kalbskotelettknochen an unseren Nasen vorüberfuhren. So wunderbar abgehärtet waren wir, daß kein Grippebazillus und kein Hungerödemchen sich an uns heranwagten. Nur unsere Hände und Füße hatte der Frost mit blauroten Hügelchen garniert, die sich mitunter auch gelb einfärbten, besonders wenn wir sie in dem uns als Heilmittel empfohlenen Eichenrindensud gebadet hatten.
    Am Faschingsdienstag kam Kirsten mit einer großzügigen Sonderzuteilung an Konfetti und Luftschlangen nach Hause: pro Haushalt drei Rollen Luftschlangen und für jedes Kind ein Tütchen bunten Konfettis. Außerdem brachte sie eine schlechte Nachricht mit.
    »Von heute nacht um sswölf an werden wir überhaupt keine Elektrissität mehr kriegen«, sagte sie bekümmert.
    »Wir feiern Karneval!« schrien die Kinder.
    Wir feierten Karneval. Um der Kinder willen. Weil wir noch lebten. Weil schon die zweite Februarhälfte war und der Winter doch einmal zu Ende gehen mußte. Weil wir bis zwölf noch Licht haben würden.
    Kirsten machte aus ihrer grauen Schlafdecke und einem Päckchen Luftschlangen etwas geradezu aufreizend Schickes, und ich sah, nachdem ich einiges Innere außen angezogen und mich zusätzlich mit etwas Wehrmachtskunstgewerbe behängt hatte, durchaus nicht alberner aus, als Männer gemeinhin bei Karnevalsveranstaltungen auszusehen pflegen. Ulli und Edith erzielten mit der Kleidung des jeweils anderen Geschwisterteils komische Wirkungen.
    »Wir nennen es ›Bal glacé‹«, entschied Kirsten, und wir fanden den Titel dieses Eisfestes höchst apart, zumal er an die Bal parés unserer besten Münchner Jahre erinnerte.
    Eine Flasche Kornschnaps besaßen wir noch von einer früheren Zuteilung, und Kirsten bereitete daraus, unter Zuhilfenahme von Rumaroma, etwas Heißes und Punschähnliches, das sie nur für die Kinder weitgehend verdünnte.
    Im übrigen wußte sie wieder einmal ein Rezept, dem Grundbestandteil Kartoffeln durch beharrliches Pantschen, Rühren und Aromatisieren eine aufregende Ersatzspeise abzuringen, die sie als echtes Münchner Faschingsgericht bezeichnete. Als es fertig war, sah es genauso aus wie am Anfang: wie Kartoffelbrei. Es schmeckte zwar entfernt wie Erbswurst, aber da dieses Gericht mit München wenig zu tun hatte, ließ ich die Kinder zuerst kosten und raten.
    »Marzipan!« jubelte Edith, die dieses süße Genußmittel vor kurzem durch unser dänisches Wunderpaket kennengelernt hatte.
    »Münchner Weißwurstersass«, sagte Kirsten ein wenig betrübt und fügte entschuldigend hinzu: »Natürlich ist es nischt möglisch, auch die Wurstschale her-ssus-tellen.«
    Ich tröstete sie, indem ich sagte, mit der hätte man ohnedies nur unnötige Arbeit. Dann klatschte ich in die Hände und rief, aus Münchner Erinnerungen heraus, animierend:
    »Auf geht's!«
    Der ›Bal glacé‹ begann. Wir entfesselten den Lichtrausch unserer bis zu diesem Tag noch polizeilich konzessionierten Fünfzehn-Watt-Birne, die wir durch ein übergestülptes rotes Blumentopfkrepp-Papier zu orientalischem Dämmerdunkel milderten. Die Kinder warfen den Inhalt des ersten Konfettibeutels hoch, der größtenteils in den Topf mit dem Punsch fiel, und Ulli öffnete leise die Klappe zum Speiseaufzug, die uns mit Herrn Büllrumps Großsuper und einer glücklicheren Welt verband.
    Irgendwo auf Gottes Erdboden – vielleicht sogar in diesem eisgepanzerten Europa – wurde richtiger Karneval gefeiert. Von dort hörte man Tanzmusik, Rufen, Lachen, Kreischen und Gläserklingen, und es klang nach Licht, Wärme und Sattsein.
    »Vielleischt ist dieses in Köbenhavn«, sagte Kirsten sehnsüchtig, und ich antwortete:
    »Hie Kopenhagen, hie salta!«
    Es wurde Kopenhagen an diesem Abend. Das heiße

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