Wir zwei sind Du und Ich
letzten Wohnung auf.
„Du kommst spät, Ri!“ Mit verschränkten Armen steht Ris Mutter an der Küchentür. „Warst wohl wieder stundenlang in deinem Plattenladen?“
„Und wenn schon!“, gibt Ri genervt zurück. Warum musste alles aus dem Mund ihrer Mutter wie ein Vorwurf klingen?
„Was kümmert dich das? Sei doch froh, wenn du deine Ruhe hast! Ich würde gerne mal meine Ruhe haben!“ Wütend stapft sie die Treppe zu ihrem Zimmer hoch.
„Du weißt doch, dass du die Schuhe ausziehen sollst!“, brüllt ihre Mutter ihr hinterher, aber da ist Ri schon in ihrem Zimmer – in Sicherheit! Mit all der Wut in ihrem Bauch schlägt sie die Tür zu und atmet erleichtert auf. Sie lässt die schwere Schultasche auf den Boden fallen und wirft sich auf ihr Bett. Durch das Dachfenster sieht sie den Schneeflocken zu, wie sie langsam vom schwarzen Nachthimmel fallen, um dann in Sekunden zu schmelzen. Vergänglichkeit, denkt Ri. In einem Moment sind sie noch da, im nächsten nicht mehr. Wie Ben.
„Warum weinst du denn, kleine Prinzessin?“, hatte er gefragt. Es war ein verregneter Tag im Februar gewesen. Die Straßenränder und Gehsteige waren mit langsam schmelzendem Schneematsch bedeckt, überall waren Pfützen.
„Ich habe meine Handschuhe verloren“, schluchzte die kleine Ri.
„Aber das ist doch kein Grund zu weinen. Wollen wir sie zusammen suchen?“
Ri nickte.
„Ich bin Ben.“ Der Junge mit den schwarzen, wilden Haaren und den strahlend blauen Augen lächelte sie an und nahm sie bei der kalten Hand. „Und du?“
„Ri.“ Vorsichtig schaute sie den fremden Jungen an. Er musste schon zur Schule gehen, denn er trug einen richtigen Schulranzen! Was hätte Ri dafür gegeben, auch so einen Ranzen zu haben! Aber sie war noch immer ein kleines, langweiliges Kitakind. Erst im Sommer durfte sie endlich auch zur Schule gehen!
„Weißt du, wo du sie verloren hast?“
Sie schüttelte den Kopf.
Suchend waren sie den ganzen Weg bis zum U-Bahnhof zurückgelaufen, aber die neuen, roten Handschuhe mit dem aufgenähten Tiger hatten sie nicht finden können. Also machten sie sich wieder auf den Weg zur Kita und der daneben liegenden Grundschule.
„Gehst du noch in die Kita?“
Beschämt nickte Ri.
„Und dann läufst du schon ganz allein durch die Stadt?“, fragte Ben verwundert und anerkennend zugleich.
„Hmm“, sagte Ri jetzt ein bisschen stolz. „Meine Mutter fährt mit mir mit der U-Bahn und das kleine Stück zur Kita schaffe ich schon allein.“
„Wow!“
Plötzlich war es gar nicht mehr schlimm, dass Ri ihre Handschuhe verloren hatte. An der Hand von Ben zu gehen, mit ihm zu reden und bei ihm zu sein, das war so schön.
„Ist das dein Bruder?“, fragte Frau Höfling, die alle Kinder in der Kita in Empfang nahm.
„Nur ein Freund“, sagte Ben und drückte Ri unbemerkt ein Himbeer-Maoam zum Abschied in die Hand, die jetzt ganz warm war. Den ganzen Morgen hielt sie das Bonbon fest umschlossen in ihrer Faust, aus Angst, sie könne sonst den Morgen und die Erinnerung daran verlieren.
„Nur ein Freund“, hatte er gesagt. Ein Freund!
Von da an gingen sie nicht nur jeden Morgen den Weg zur Kita und zur Schule gemeinsam, sondern teilten auch jede freie Minute. Wie Pech und Schwefel klebten sie aneinander. Wie Bruder und Schwester. Jeden Tag lebten sie in ihrer ganz eigenen Welt.
Ri startet ihren alten Schallplattenspieler. Sie mag die knisternden Geräusche der Vinylplatten. Das sanfte Aufsetzen des Tonarms. Die Schneeflocken fallen immer noch dicht und leise vom Himmel. Bei den ersten Takten von „First we take Manhatten, than we take Berlin“ leistet Ri einen Schwur: Sie wird Ben wiederfinden!
Wenn Leonards Stimme „Berlin“ singt, überkommt sie eine Gänsehaut. Traurig und schön zugleich. Warum singt er ausgerechnet von Berlin?
Der hässliche Pinguin
Leise klopft es an Ris Zimmertür. „Ri?“, hört sie die Stimme ihrer Mutter, aber sie antwortet nicht. Keine Ahnung, warum nicht. Sie hat einfach keine Lust zu antworten.
Jetzt klopft es lauter. „Ri?“ Wieder eine kurze Pause. Stille. „Kommst du runter? Das Abendessen ist fertig.“
„Ja, gleich“, ruft Ri durch die immer noch geschlossene Tür, damit ihre Mutter wieder verschwindet und nur die Stille bleibt.
In der Küche stehen die Teller schon bereit.
„Ich hab Nudelauflauf gemacht. Den magst du doch so gern.“
„Hm“, murmelt Ri. Jetzt tut es ihr schon fast ein bisschen leid, dass sie ihre Mutter vorhin so
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