Wirbelsturm
Der Mann, der bei der Straßensperre hinter ihm gestanden hatte, holte ihn ein, ein Mann mittleren Alters mit einem durchfurchten, kraftvollen Gesicht, ärmlich gekleidet, das Gewehr gut gepflegt. »Dieser Hundesohn von einem hezbollahi«, knurrte er. »Sie hatten recht, Agha, die sollen lieber Allahs Werk tun im Auftrag des Imam, nicht des Abdullah Khan.«
Ross war auf der Hut. »In wessen Auftrag?«
»Ich bin aus Astara, und an Ihrem Akzent habe ich gemerkt, daß Sie nicht aus Astara sind, Agha. Männer aus Astara pissen nicht in Richtung Mekka – in Astara sind wir alle gute Moslems. So, wie Sie aussehen, müssen Sie der Saboteur sein, auf den der Khan einen Preis ausgesetzt hat.« Der Mann sprach mit ruhiger, seltsam freundlicher Stimme; das alte Enfield-Gewehr hing über seiner Schulter.
Ross sagte nichts, knurrte nur und ging weiter, ohne sein Tempo zu verändern.
»Ja, der Khan hat einen hohen Preis auf Ihren Kopf ausgesetzt, viele Pferde, eine Herde Schafe, zehn Kamele oder noch mehr. Die Prämie ist noch höher, wenn Sie ihm lebend gebracht werden. Aber wo ist diese Azadeh, seine Tochter, die Sie und noch ein anderer Mann entführt haben sollen?«
Ross starrte ihn mit offenem Mund an, und der Mann kicherte. »Sie müssen schon sehr müde sein, daß Sie sich so schnell verraten haben.« Unvermittelt verhärteten sich seine Züge. Er griff in die Tasche seiner alten Jacke, zog einen Revolver heraus und stieß ihn Ross in die Seite. »Gehen Sie jetzt einen Schritt vor mir, laufen Sie nicht und tun Sie nichts, oder ich schieße Ihnen in den Rücken! Also wo ist die Frau? Auch für sie ist eine Belohnung ausgesetzt.«
In diesem Augenblick kam ein Lastwagen vor ihnen das Gefälle heruntergesaust, geriet schwankend auf die Gegenfahrbahn und schoß laut hupend auf sie zu. Die Menschen stoben auseinander. Ross reagierte schneller. Er wich nach rechts aus, stieß aber den Mann mit der Schulter so kräftig in die Seite, daß dieser vor dem heranrasenden Vehikel lang hinschlug. Die Vorderräder des Wagens überrollten ihn, dann auch die Hinterräder. Der Wagen kam erst nach 30 Metern zum Stehen.
»Allah schütze uns! Haben Sie das gesehen?« fragte einer. »Er ist in den Lastwagen hineingelaufen!«
Ross zerrte die Leiche von der Straße weg. Der Revolver war im Schnee verschwunden.
»Ist dieser arme Mensch Ihr Vater, Agha?« erkundigte sich eine Frau.
»Nein … nein«, antwortete Ross, der jetzt fast in Panik geriet. »Ich … er ist ein Fremder. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Beim Propheten, wie unvorsichtig manche Leute doch sind! Als hätten sie keine Augen. Ist er tot?« fragte der Lastwagenfahrer, der jetzt die Straße heraufkam. Er war ein bärtiger dunkelhäutiger Mann. »Allah ist mein Zeuge, daß er mir in den Wagen gelaufen ist. Das haben alle gesehen. Sie«, wandte er sich an Ross, »Sie gingen doch neben ihm, Sie müssen es gesehen haben.«
»Ja, ja, es ist so, wie Sie sagen. Ich ging neben ihm.«
»Wie es Allah gefällt.« Erleichtert ging der Fahrer zu seinem Lastwagen zurück. Alles war in bester Ordnung. »Seine Exzellenz hat es gesehen. Inscha'Allah.«
Ross drängte sich durch diejenigen, die stehengeblieben waren, und setzte seinen Weg fort: nicht zu schnell, nicht zu langsam. Nachdem er eine Biegung hinter sich hatte, beschleunigte er seine Schritte, während er sich die Frage vorlegte, ob es richtig gewesen war, so schnell zu reagieren, fast ohne nachzudenken. Aber der Mann hätte sie verraten! Weg mit ihm, Karma ist Karma. Wieder eine Biegung, und von Azadeh immer noch nichts zu sehen. Die Straße stieg steil an. Ein paar Bruchbuden standen am Waldrand, wildernde Hunde trieben sich zwischen ihnen herum. Die wenigen, die ihm nahekamen, verscheuchte er; viele hatten die Tollwut. Wieder eine Biegung, und da sah er Azadeh am Straßenrand sitzen und sich inmitten eines Dutzends anderer ausruhen. Sie sah ihn sofort, mahnte ihn mit einer leichten Kopfbewegung zur Vorsicht und ging dann weiter die Straße hinauf. Er blieb 20 Meter hinter ihr. Unten wurde geschossen. Wie alle anderen blieben auch sie stehen und blickten zurück. Sie konnten nichts sehen. Die Straßensperre lag bereits weit hinter ihnen, fast einen Kilometer. Nach einer kleinen Weile hörte das Schießen auf. Sie gingen weiter.
Hin und wieder wurden sie von einem Bus überholt, aber jeder war überfüllt, und keiner blieb stehen. Unter diesen Umständen mußte man auch an einer richtigen Haltestelle ein oder zwei Tage
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