Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Jahrhundert. Nach dem Ersten Weltkrieg expandierte die akademische Welt in rasantem Tempo, und dieser expandierende universitäre Bereich bekam die Welt des Wissens fest in den Griff. Die Universitätsangehörigen zogen strenge Grenzen und drängten die Amateure hinaus. Die hinausgeworfenen Amateure waren allerdings häufig bemerkenswerte Personen, deren Kenntnisse nicht in ihrer Profession, sondern in ihrer Liebe zur Sache gründeten. Das ist ein Gefühl, das viele von uns nach einem Leben voller Wissensleistungen verloren haben dürften – so ähnlich wie jene Sopranistinnen, die »Dove sono« so oft gesungen haben, daß ihnen jegliches Gefühl der Verwunderung abhanden gekommen ist, wie es die übrigen von uns stets ergreift, wenn der Vorhang zum zweiten Akt von Figaros Hochzeit aufgeht. Viele dieser Amateure waren sogar echte Experten, die sich (an den damaligen Maßstäben gemessen) in ihrer Wissenschaft gut auskannten, ohne deshalb Vollzeitwissenschaftler zu sein.
Eine genaue Datierung des Hinauswurfs dieser Amateure ist möglich, wenn man das Verhältnis zwischen den promovierten Personen im Bereich des universitären Stellenmarktes und den Angehörigen der wichtigsten »Berufsverbände« betrachtet. Diese Zahlen habe ich für die Geistes- und Sozialwissenschaften berechnet. 2 Das Jahr 1908 ist das erste, für das einigermaßen zuverlässige Daten über die Mitgliedschaft in diesen Verbänden vorliegen. Promoviert waren damals nur 20 Prozent der Mitglieder der wichtigsten wissenschaftlichen Gesellschaften, die sich dann wenig später im American Council of Learned Societies zusammenschlossen. Freilich gab es seinerzeit viele professionelle Wissensarbeiter, die nicht promoviert waren. In dieser Gruppe waren vor allem zahlreiche College-Dozenten vertreten. Aber selbst deren Zahl summiert sich nicht zur Gesamtzahl der nichtpromivierten Mitglieder der Verbände. 1908 waren mindestens 40 Prozent – und wahrscheinlich ein höherer Anteil – der Mitglieder der wichtigsten wissenschaftlichen Organisationen Amateure der einen oder anderen Art. Aber die Zahl der Promovierten nahm zu. Um 1920 waren 25 Prozent der Mitglieder dieser Gesellschaften promoviert, bis 1925 waren es 30 Prozent, bis 1930 40 Prozent, bis 1935 60 Prozent und bis 1940 75 Prozent. 3 Dementsprechend waren Organisationen wie die American Philological Association, die Modern Language Association und die American Historical Association bis zur Mitte der dreißiger Jahre in keinem Sinne des Wortes durch und durch professionelle Verbände. Viele ihrer Mitglieder waren Amateure oder auch »Berufswissenschaftler« ohne die ausschlaggebende Eintrittskarte zu ihrer Profession – das heißt: Sie hatten keinen Doktortitel.
Um zu zeigen, welchem Menschenschlag diese Amateure angehörten, möchte ich einige Amateur-Sozialwissenschaftler im Chicago des frühen 20 . Jahrhunderts betrachten. Nehmen wir etwa Charles Richmond Henderson, der zu meinen vortrefflichen Vorgängern zählt und der um die Jahrhundertwende Professor für Soziologie an der University of Chicago und gleichzeitig Universitätspfarrer war. Damals scheint das niemand für befremdlich gehalten zu haben, während es heute eine völlig groteske Vorstellung wäre, sich auszumalen, ein Universitätspfarrer irgendeiner Konfession könnte in einem anderen Fachbereich als der Theologie auf wissenschaftlichem Niveau tätig sein. Tatsächlich wurde Hendersons Leistung von seinen Nachfolgern im Fach Soziologie – Robert Park und Ernest Burgess – schleunigst vergessen. In ihren Augen war diese Leistung nicht »wissenschaftlich«, womit sie allerdings weder »quantitativ« noch »positivistisch« meinten. Vielmehr meinten sie, daß seine Neutralität durch seinen Reformeifer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Park schickte seine Studenten zwar ebenso wie Henderson hinaus in die Stadt, aber er schickte sie als Beobachter – nicht als Personen, die selbst mit zum Bild gehörten, sondern als wissenschaftlich orientierte Fremde. Dagegen waren die zahlreichen Studierenden Hendersons – ebenso wie ihr Lehrer – Reformer und Aktivisten.
In dieser Hinsicht war Park grundverschieden von seinem Freund und Kollegen William Isaac Thomas, der voller Eleganz in seinem Soziologenberuf aufging und deshalb 1918 entlassen wurde, als man ihn in einem Hotel der Innenstadt zusammen mit einer jungen Frau erwischte, deren Ehemann als amerikanischer Soldat in Frankreich diente. Der Schriftsatz, mit dem Thomas diesen
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