Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Schwan: »Am Heiligen Abend zeichnet es sich um neun Uhr vor dem westlichen Himmel ab: ein Sternensymbol des christlichen Glaubens, ein Zeichen der Verheißung aus einem jenseitigen Reich.« 5 In der Mehrzahl der Fälle sind diese Urteile jedoch rein ästhetischer Art: »Dieses herrliche Objekt (M 13 ) ist der schönste Kugelsternhaufen am Nordhimmel.« 6 Oder:
»Stets erfreut Orion das Auge jedes Betrachters. Das Erstaunlichste am Orion ist der große Orionnebel. […] Dieser Nebel ist eine kaum zu fassende Masse aus Gas im Zustand heftigster Erregung, ein gigantischer Strudel […] durch ein großes Teleskop betrachtet, bietet sich ein prächtiger und wunderbarer Anblick. Unsere Worte reichen nicht aus, um seine Schönheit zu beschreiben.« 7
Das ist nicht die Sprache professioneller Astronomen. Aber dennoch wußten die Verfasser nicht nur eine ganze Menge über Astronomie, sie steuerten auch viele der Daten bei, auf deren Grundlage die moderne Theorie der Sterne aufgestellt wurde. Bei ihnen handelte es sich, ebenso wie im Fall der sozialwissenschaftlichen Amateur-Experten, nicht bloß um Liebhaber mit guten Absichten, obwohl das gewiß dem Bild entsprochen hätte, das sich die Wissenschaftler von ihnen machten. Freilich fehlten ihnen die mathematischen Theorien und die abstrakte Schulung der Astronomen, von denen sie »benutzt« wurden. Andererseits jedoch hatten sie noch nicht das kollektive Vorhaben preisgegeben, durch das dem Projekt der Menschheit im Universum ein Sinn gegeben werden sollte. Im Gegensatz zu vielen Wissenschaftlern waren sie keine entfremdeten Verfahrensanwender.
Warum bin ich der Meinung, die Naturwissenschaftler seien entfremdet gewesen? Weil auch sie in ihrer Wissensarbeit eine andere Theorie der Welt gelten ließen als im Alltagsleben. Als Naturwissenschaftler hielten sich die meisten von ihnen an den Begriff des gottlosen Universums; und wer sich wirklich auskannte, hatte sogar – in Einklang mit den letzten Formulierungen von Bohrs Quantentheorie 8 – die Vorstellung von einer objektiven Realität fallengelassen. Mit Gödels Beweis hatte die Wissenschaft zudem den Gedanken einer vollständigen und widerspruchsfreien axiomatischen Grundlegung der Mathematik aufgegeben, also jener Disziplin, die ihrerseits die Grundlage der modernen Naturwissenschaft überhaupt bildet. Diese Dinge erinnern uns natürlich daran, daß die Naturwissenschaft (nicht anders als die meisten großen Ideensysteme) im Grunde auf einem unbeweisbaren Glauben basiert – in diesem Fall auf dem Glauben an die gesetzmäßige Natur der objektiven, materiellen Wirklichkeit.
Im Alltag jedoch verhalten sich die professionellen Wissenschaftler sowohl in ihrem Beruf als auch bei ihren Interaktionen mit Nicht-Wissenschaftlern nicht unbedingt wie Leute, die wissen, daß die objektive Realität eine Fiktion und die Mathematik eine Hypothese ist. Ganz im Gegenteil: Der kontingente Charakter ihres Glaubens an die objektive Wirklichkeit und dessen Tragweite für ihre Wissenschaft ist ihnen häufig nicht bewußt. Noch wichtiger ist vielleicht, daß sie die Implikationen dieser Kontingenz für ihr Alltagsleben sicher außer acht lassen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn sie viele ihrer Einstellungen zu anderen Forschern und zur Öffentlichkeit auf genau diesen unhaltbaren Objektivitätsglauben gründen. Doch Einstein erkannte Wissensentfremdung, sobald er ihrer ansichtig wurde. Als er sagte: »Religion ohne Wissenschaft ist lahm, und Wissenschaft ohne Religion ist blind«, brachte er das Wesen der in den Naturwissenschaften herrschenden Wissensentfremdung auf den Begriff.
Auch in den Geisteswissenschaften ist das Phänomen der Wissensentfremdung anzutreffen. Viele geisteswissenschaftliche Gebiete wurden zunächst von Amateuren aufgebaut, unter anderem auch deswegen, weil sie über das nötige Geld verfügten, um die Manuskripte und Kunstwerke zu erwerben, auf denen die neuen Fächer basierten. Aber auch bei manchen bemerkenswerten geisteswissenschaftlichen Meisterleistungen – unter denen das Oxford English Dictionary besonders hervorsticht – spielten Amateure eine wesentliche Rolle. Ein weiteres Beispiel ist die im ausgehenden 19 . und frühen 20 . Jahrhundert erfolgte Bearbeitung der Werke von zwei Dutzend englischen Dichtern, deren Schriften mit Hilfe gedruckter Stichwortregister erfaßt wurden. Die Verzettelungsarbeit wurde – unter Leitung von Professor Lane Cooper vom Englischen Seminar der Cornell University
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