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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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zusammen mit ihm in dem Loch war, den Charakter des Lochs angenommen. Überall war Müll, er musste nur richtig hinsehen. Es war, als würden die Pflanzen vor seinen Augen verwelken, und zwar aus freien Stücken verwelken, eine Art Selbstmord, als würden sich die alten Wände von ihm abwenden, sich nach innen biegen und keine Wände mehr sein wollen. Ihm war, als könnte er sich niemals wieder überwinden, sich auf das Sofa zu legen. Ein Sofa wie ein Loch, dachte er, obwohl er schon auf schlimmeren Sofas gesessen hatte. Er konnte sich nicht erklären, was da geschah, und bevor das, was da geschah, überhandnahm, legte er den Hörer wieder auf die Gabel. Damit war der Spuk vorbei. Sobald der Hörer auf seinem Platz lag, war alles wie zuvor. Das Sofa lud zum längeren Verweilen ein, die Pflanzen im grünen Zimmer wuchsen und blühten schöner denn je, und seine Lungen hatten niemals bessere Luft geatmet.
     
    Die folgenden Tage verbrachte er damit, über Falten in den Teppichen zu stolpern und darüber nachzudenken, wie er vorgehen sollte. Er kam zu dem Schluss, nur einen Teil der Zimmer zu verändern. Das gesamte obere Stockwerk würde er so belassen, wie es zu Emmas Lebzeiten gewesen war. Einzig ein paar der für ihn nicht in Frage kommenden Möbelstücke von unten würde er nach oben schaffen, wobei er darauf achten wollte, den Charakter des jeweiligen obigen Zimmers nicht zu zerstören. Bewohnen würde er nur das untere Stockwerk. Hier begann er damit, die Tapete abzureißen. Die Schichten ließen sich ohne große Anstrengung abziehen. In den Pausen aß er deutsche Tütensuppen mit Markklößchen oder Ochsenschwänzen, trank Kaffee, Bier und Wasser. Nachdem er mit dem Abziehen fertig war, tauchte er die Farbrolle in das Rot und trug die Farbe in gleichmäßigen, monotonen Bewegungen von oben nach unten auf den Putz der Wand auf. Er übertrug die früher in den Zimmern dominierenden Farben in einer kräftigen Version auf die Wände. Während dieser Tätigkeit, die knapp zwei Wochen in Anspruch nahm, sah er niemanden. In seinen besten Momenten sah er nicht einmal mehr die jeweilige Farbe vor sich an der Wand. Die fiel ihm erst wieder abends vor dem Badezimmerspiegel auf, wenn er sie als dicke Klumpen aus seinen Haaren zog. Er nahm den Bus in die Stadt, um dort einzukaufen und zu essen. Später schleppte er die Farbtöpfe, und was er sonst noch brauchte, die Hole nach oben. Wenn er das Haus am nächsten oder übernächsten Tag wieder verließ, hatte er ein weiteres Zimmer gestrichen. Als Marco H. an diesem Nachmittag den noch etwas verschlafenen Kopf aus dem Fenster des roten Zimmers an die frische Luft hält, fängt ein Hund an zu bellen. Vor seiner Tür steht ein schmächtiger kleiner Mann, der eine winzige Promenadenmischung an der Leine hält. Der Mann hat eine dunkelblonde Halbglatze und trägt einen Schnurrbart. Sein Blick ist auf seine schwarzen Gummistiefel gerichtet, die ungeduldig gegen die oberste Stufe der Steintreppe treten. Ohne die nötige Strenge versucht er durch leichtes Ziehen an der Leine, den Hund zum Schweigen zu bringen. Als er Marco H. im Fensterrahmen entdeckt, wendet er sich ihm mit einem etwas übertriebenen Lächeln zu. Er hat auffallend dunkle Augen, und sein Kinn scheint zu fehlen, was aber durch einen stark hervorstehenden Adamsapfel teilweise ausgeglichen wird. »Guten Tag, ich wollte nur mal kurz vorbeischauen und mich vorstellen. Anton M. mein Name. Ich wohne oben im Dorf.«
    Mit der einen Hand zeigt der Mann die Hole nach oben, mit der anderen Hand hält er gleichzeitig Türgriff und Hundeleine fest. »Wir sind hier ja alle Nachbarn.«
    Er lässt den Türgriff los und kommt vor das Fenster. Der Hund folgt ihm schweigend. Die Sache mit dem Kinn ist wirklich erstaunlich.
    »Wie gefällt es Ihnen denn hier bei uns?« Sie schütteln sich die Hände.
    »Seit vier Wochen sind Sie hier? Man sieht Sie gar nicht... Ja, da hat man zu tun, und nicht zu knapp.« Anton M. nickt.
    »Emma konnte es ja zuletzt nicht mehr ... Obwohl, wir haben uns alle darüber gewundert, wie lange sie es doch geschafft hat, hier wohnen zu bleiben. Bis zuletzt.« Anton M. hört mit dem Nicken nicht mehr auf. Die Gummistiefel scharren auf dem Boden und zermatschen nebenbei einen Regenwurm, der besser unter der Erde geblieben wäre.
    »So hat sie's auch gewollt, die Emma ... Sie hätte ja auch noch leben können.« Sein Nicken geht in ein kaum merkliches Schütteln des Kopfes über, und der Blick verliert sich für

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