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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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enttäuschten Augen verwandelt sich die schöne Stewardess My in Madame Lapointe, die mit einer Art Taktstock auf das immer schriller tönende Glöckchen eindrischt. Er wacht auf dem blauen Sofa in dem roten Zimmer neben der Küche auf. Die Türglocke läutet. Das Fenster des roten Zimmers steht offen, und es riecht noch leicht nach Farbe. Marco H. springt auf, und während er aufspringt, ist ihm durchaus bewusst, wie gerne er aufspringt. Die intensive rote Farbe an der Wand gefällt ihm, das Sofa ebenso.
    Er hat das Haus tatsächlich »In der Hole« gefunden. Von dem steil ansteigenden Schotterweg geht, auf halber Strecke zum Dorf, eine Steintreppe mit zwanzig Stufen links zum Häuschen hoch. Unten im Tal, am Fuß des Schotterwegs, rechnete er mit so etwas wie einem Bretterverschlag. Doch »In der Hole 3« ist ein Fachwerkhaus mit weißen Lehmwänden und schwarzen Holzbalken, ganz wie die übrigen Häuser im Dorf, nur etwas kleiner. Der Inschrift auf der Frontseite zufolge ist es 1814 unter Gottes Aufsicht gebaut worden. Die beiden Häuser »In der Hole 1« und »In der Hole 2« liegen nicht wirklich in der Hole, sondern, durch eine Art namenlose Ruelle getrennt, direkt hinter der Häuserreihe »Am Bergesweg«. Zwischen den Häusern 1 und 2 fällt der Geröll- und Schotterweg steil ab. Nicht einmal deren Hauseingänge befinden sich in der Hole, sondern sind der Häuserreihe »Am Bergesweg« zugewandt. Außerdem wird »In der Hole 2« seit einiger Zeit nur noch als Kuhstall genutzt. Deshalb lässt sich ohne Übertreibung behaupten, »In der Hole 3« sei das einzige Haus, das jemals wirklich in der Hole gestanden hat. Das Haus besteht aus zwei Stockwerken mit jeweils vier Zimmern. Die Zimmer sind alle in etwa gleich klein und annähernd quadratisch. Jedes Zimmer hat ein bis zwei Fenster. Es sind alte Fenster, und durch die porösen Holzrahmen pfeift nachts der Wind. Marco H. hat ein sprechendes Haus geerbt. Und er hat ein buntes Haus geerbt, denn in jedem der Zimmer herrscht eine andere Farbe vor. Der Raum, in dem er sich gerade befindet, ist rot, ein anderer gelb. Wieder andere sind blau, grün, braun, weiß, das Badezimmer ist schwarz. Vor seiner Renovierung war es nicht die Farbe an den Wänden, die die Farbe eines Raums ausmachte. Es war vielmehr die Kombination der Möbel und der Wohnaccessoires, die das eine Zimmer zu einem blauen, das andere Zimmer zu einem braunen machte. Im blauen Zimmer, dem früheren Schlafzimmer, lag ein dunkelblauer Teppich und auf dem dicken Federbett eine blaue Tagesdecke. In einer Ecke stand ein einzelner blauer Sessel. An einem Kleiderhaken hing ein blauer Morgenmantel. Der Wecker auf dem Nachttisch, durchaus von der günstigeren Sorte, war aus blauem Plastik. Im nächsten Raum hatten sich alle Pflanzen des Hauses versammelt, dort stand eine grün bemalte Holztruhe, und die Vorhänge vor dem Fenster waren ebenfalls grün. An der Wand hing ein Waldgemälde, eine Art Labyrinth, durch das er einmal einen grünen Käfer hat krabbeln sehen. Erst mit der Zeit wurde ihm bewusst, was er geerbt hatte. Er hatte alles geerbt. Jede noch so unbedeutende Kleinigkeit, die ihr gehört hatte. Er hatte nicht nur ein Dach über dem Kopf geerbt, sondern eine Aufgabe.
    Zunächst ging er von Zimmer zu Zimmer und fragte sich, wie er es renovieren und einrichten sollte. Sein erster Impuls war, Sperrmüll anzumelden und das Haus weitestgehend auszuräumen. Was sollte er mit all den Sachen anfangen? Wie viel Zeit sollte er dafür verwenden, in den alten Kisten und Schränken nach ... ja, nach was eigentlich zu suchen? Wahrscheinlich wäre ein ansehnlicher Haufen zusammenkommen. Den hätte er die Hole entweder runter oder hoch schleppen müssen, denn kein Müllwagen könnte auch nur in die Nähe des Hauses kommen. Seine Mülltonne steht oben im Dorf, immerhin fünfzig steile Meter von seiner Haustür entfernt. Trotzdem war er entschlossen, bei der Stadt anzurufen, um den Müll abholen zu lassen. Die Hand schon am Telefonhörer und den Finger im Telefonbuch an der richtigen Stelle, trat eine Veränderung ein. Das, was er abtransportieren lassen wollte, wurde zu Müll, sah aus wie Müll und roch nach Müll. Die Räume, die ihn vor wenigen Tagen so freundlich empfangen hatten, kamen ihm alt, verwahrlost und erdrückend vor. Als ob er plötzlich die Dinge heranzoomen konnte und sein Blick dadurch umso härter an ihrer Oberfläche abprallte. Es war, als befände er sich in einem Loch, und als hätte alles, was

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