Wittgenstein
einen Moment irgendwo an der Hauswand. Der Hund wedelt mit dem Schwanz und lässt Marco H. nicht aus den Augen.
»Eine besondere Person! Ach, Sie haben sie gar nicht gekannt. Deshalb waren Sie nicht auf der Beerdigung. Ach so, in Kanada.« Anton M. reckt den Kopf und blickt seitlich an ihm vorbei durchs Fenster in den Raum dahinter.
»Und Sie haben schon ein bisschen renoviert? Rot!«, er ruft es fast. »... Da haben Sie ein schönes Häuschen, keine Frage, ist noch ganz gut in Schuss ... Ist natürlich schwer mit einem Auto. Ach so, haben Sie gar nicht. Na dann ... Och, gegen ein Tässchen Kaffee habe ich nie was. Einen Moment, ich mach eben den Hund hier draußen fest.« Marco H. öffnet die Tür, und sie gehen in die Küche.
»Schön bunt«, findet Anton M. Sie räuspern sich.
»Kannten Sie meine Großtante gut?«, fragt Marco H. und stellt ihm einen hübsch verzierten Kuchenteller mit einem Stück selbst gebackener Schwarzwälder Kirsch vor die Nase. Wegen der Torte hat er stundenlang in der Küche gestanden. Der Kaffee braucht noch ein paar Minuten. Der Mann aus dem Dorf setzt sich und legt seine Hände auf den Tisch. Das sind die Hände von jemandem, der es nicht gewohnt ist, mitten in der Woche ein Stück Schwarzwälder Kirsch zu essen. Marco H. isst im Stehen.
»Nicht wirklich. Natürlich kannte ich sie, hier läuft man sich ständig über den Weg. Wir haben uns gegrüßt. Aber sie hat sich sonst nicht besonders um uns Leute aus dem Dorf gekümmert. Ich glaube, sie wollte einfach ihre Ruhe haben. Sie hat sich aus allem rausgehalten.«
Marco H. holt die Tassen. Anton M. räuspert sich wieder. In seiner Speiseröhre hat sich ein Krümel festgesetzt, der sich nur unter mehrmaliger Anstrengung zurück in den Mundraum befördern lässt.
»Ich war noch nie hier drin. Nett haben Sie's hier. Der Kuchen ist lecker. Und wie ist Kanada so? Ich war mal in Südtirol.«
Der sahnige Kuchen verklebt ihre Münder, und sie freuen sich darauf, bald mit einem Schluck Kaffee nachspülen zu können.
»Wissen Sie, die Emma war allein auf der Welt, aber weil sie es auch so wollte. Als meine Mutter noch lebte, hat sie sie oft nach Wemlighausen in den Frauenverein eingeladen. Emma ist, soviel ich weiß, nie hingegangen. Viel Besuch hat sie hier bestimmt auch nicht bekommen. Ich glaube, sie war ziemlich allein auf der Welt. Aber sie hat auch keinen Kontakt gesucht. Im Winter hab ich für sie Schnee geschippt. Und im Herbst, wenn sie Kohlen bekommen hat, hab ich ihr geholfen, die Kohlen in den Keller zu schleppen. Sie hat mich immer bezahlt, da konnte ich mich noch so sehr wehren, und sie hat mir immer mehr gegeben, als die Arbeit wert war. Dabei hat sie noch selbst mitgearbeitet, und nicht zu knapp. Ich denke, sie wollte niemandem was schuldig bleiben ... Sie kam ja nicht von hier. Ist vor etwa dreißig Jahren hierher gezogen. Ich kann mich nicht richtig daran erinnern, aber es war seinerzeit schon etwas Besonderes, dass sie als alleinstehende Frau das Haus gekauft hat. Wäre es heute sicherlich auch, bei der Lage. Davor hat das Haus lange leergestanden. Soll aber gut in Schuss gewesen sein, als sie es gekauft hat. Keine Ahnung, woher sie das Geld hatte. Sie hat auch nie gearbeitet, soviel ich weiß. Na, es scheint immer gereicht zu haben. Natürlich hat man darüber geredet. Meine Mutter hätte Ihnen da bestimmt mehr erzählen können. Mich interessiert so was alles nicht.« Sein Stück Kuchen hat der Gast inzwischen aufgegessen. Nun lehnt er sich zurück und faltet seine Hände über dem kleinen Bauch. In beiden Mundwinkeln klebt Sahne, und Marco H. hat das Gefühl, der Ältere der beiden zu sein. Der Kaffee ist fertig, und Anton M. nimmt einen gierigen Schluck, an dem er sich den Mund verbrennt. »Die Emma war 'ne anständige Person, und sie ist anständig alt geworden, das ist die Hauptsache. Ein bisschen schade war's trotzdem, dass sie allein geblieben ist. Sie war hübsch und mit Abstand die schönste Frau im Dorf. Ich war noch fast ein Junge damals. Aber als sie hier eingezogen ist, war ich sofort in sie verliebt, und bestimmt war ich nicht der Einzige. Wissen Sie eigentlich, wie sie ausgesehen hat? Nein? Haben Sie denn kein Foto gesehen? Haben Sie hier keins gefunden? Ach, Sie haben gar nicht gesucht. Was machen Sie mit all dem Krempel? Jaja, da haben Sie ja auch Zeit. Sie war wirklich eine Schönheit. Natürlich ist sie mit den Jahren alt geworden. Aber für mich war sie immer die schönste Frau, die ich je gesehen
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