Witwe für ein Jahr (German Edition)
ungepflegt; und sie war bestürzt über ihre offensichtliche Wirkung auf diese Jungen, von denen sie wußte, daß sie scharf waren und sich mit ihrem Bild vor Augen mit Hingabe einen runterholten.
Anna Havelock, geborene Rainer, konnte ihr Apartment im Wohnheim nicht verlassen, ohne daß mehrere auf den Gängen herumlungernde Jungen erröteten oder gegen Türen und Wände rannten, weil sich ihre Blicke an ihr festsaugten; und in ihrer Wohnung konnte sie den Schülern, die ihr Mann als Tutor betreute, und seinem Englisch-4W-Kurs keinen Kaffee mit Dounuts servieren, ohne daß die Jungen verstummten, weil sie so hingerissen von ihr waren. Kein Wunder, daß ihr das auf die Nerven ging. Sie flehte ihren Mann an, mit ihr nach Großbritannien oder Deutschland zurückzukehren, wo sie, wie sie aus Erfahrung wußte, normal und ohne aufzufallen leben konnte. Aber ihr Mann, Arthur Havelock, liebte das Leben in Exeter, wo er als tatkräftiger Lehrer geschätzt wurde und bei Schülern und Kollegen gut gelitten war.
In diese im wesentlichen gute Ehe, in der es nur ein einziges kontroverses Thema gab, trug Eddie O’Hare die beunruhigenden Geschichten von seiner sexuellen Verstrickung mit Marion Cole. Freilich hatte Eddie Marion entsprechend getarnt – und sich auch. Die Eddie-Figur in seinen Geschichten war kein Assistent bei einem berühmten Kinderbuchautor und -illustrator. (Da Minty O’Hare den ersten Ferienjob seines Sohnes bis zum Erbrechen in den glühendsten Farben geschildert hatte, wußte jeder im English Department, daß Eddie einmal für Ted Cole gearbeitet hatte.)
In Eddies Geschichten hatte der sechzehnjährige Junge einen Ferienjob in einem Rahmengeschäft in Southampton, und für die Marion-Figur hatte Eddie auf seine unvollständige Erinnerung an Penny Pierce zurückgegriffen; da er nicht mehr so recht wußte, wie sie ausgesehen hatte, lief seine Beschreibung ihrer äußeren Gestalt auf eine unbefriedigende Kombination aus Marions wunderschönem Gesicht und Pennys matronenhaftem Körper hinaus, der es mit Marions nicht annähernd aufnehmen konnte.
Die Marion-Figur in Eddies Geschichten war praktischerweise geschieden wie Mrs. Pierce. Die Eddie-Figur genoß ganz ohne Zweifel die wilden Früchte der sexuellen Initiation; sechzigmal in einem kurzen Sommer war sowohl für Mr. wie auch für Mrs. Havelock eine schockierende Vorstellung. Außerdem kam die Eddie-Figur in den Genuß der großzügigen Unterhaltszahlungen, die Penny Pierce bezog: Der Junge wohnte in dem phantastischen Haus der Geschäftsinhaberin in Southampton, einem grandiosen Anwesen, das auffallende Ähnlichkeit mit Mrs. Vaughns imposanter Villa in der Gin Lane hatte.
Während die verblüffende Glaubwürdigkeit der sexuellen Details in Eddies Geschichten Mrs. Havelock zutiefst verstörte, sorgte sich Mr. Havelock als guter Lehrer mehr um Eddies schriftstellerische Qualitäten. Er wies ihn auf etwas hin, was Eddie bereits vermutete: In einigen Bereichen wirkte das, was er geschrieben hatte, authentischer als in anderen. Die sexuellen Einzelheiten, die düstere Erkenntnis des Jungen, daß der Sommer irgendwann zu Ende geht – und mit ihm seine Liebesaffäre mit einer Frau, die ihm alles bedeutet (und der er vermutlich viel weniger bedeutet) –, die heftige Vorfreude auf sexuelle Genüsse, die fast so prickelnd ist wie der Akt selbst … diese Elemente in Eddies Geschichten wirkten echt. (Weil sie Wirklichkeit waren.)
Andere Details hingegen waren weniger glaubhaft. Etwa Eddies Schilderung des blinden Dichters und seines Assistenten: Die Figur des Dichters war nicht ausreichend durchgearbeitet; die pornographischen Gedichte waren weder als Gedichte überzeugend noch drastisch genug, um als Pornographie gelten zu können, während die Beschreibung der erzürnten Mrs. Wilmot, ihre Reaktion auf die pornographischen Gedichte und auf den unseligen Assistenten, der sie ihr überbringt … ja, das war wirklich gut. Und auch das wirkte echt. (Weil es Wirklichkeit war.)
Den blinden Dichter und die pornographischen Gedichte hatte Eddie erfunden; ebenso die äußere Gestalt der Marion-Figur, jene keinesweg überzeugende Mischung aus Marion und Penny Pierce. Sowohl Mr. als auch Mrs. Havelock meinten, die Figur sei unscharf; sie könnten sie nicht »sehen«, erklärten sie Eddie.
Wenn Eddie in seiner Prosa auf autobiographisches Material zurückgriff, vermochte er überzeugend und glaubwürdig zu schreiben. Versuchte er hingegen, seine Phantasie walten zu
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