Witwe für ein Jahr (German Edition)
eigentlich verließ er Long Island – zumindest in Gedanken – nie ganz; zwar verbrachte er den nächsten Sommer zu Hause in Exeter, wo er im Aufnahmebüro der Academy arbeitete und angehende Exonianer und deren Eltern auf dem Gelände der Internatsschule herumführte, aber schon im Sommer danach kehrte er nach Long Island zurück.
In dem Jahr, in dem Eddie seinen Schulabschluß machte (1960), sah er sich veranlaßt, sich anderswo einen Ferienjob zu suchen; dieser Wunsch, gepaart mit der aufkeimenden Erkenntnis, daß er sich zu älteren Frauen hingezogen fühlte – und umgekehrt –, hatte zur Folge, daß ihm Penny Pierces Visitenkarte wieder einfiel, die er aufgehoben hatte. Erst als Eddies Abschluß an der Academy nahte, also etwa anderthalb Jahre nachdem Mrs. Pierce ihm einen Job in ihrem Rahmengeschäft in Southampton angeboten hatte, wurde ihm klar, daß sie ihm womöglich mehr als einen Job angeboten hatte.
Der frischgebackene Absolvent der Academy schrieb an die geschiedene Frau mit entwaffnender Offenheit. (»Hallo! Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich. Ich war einmal der Assistent von Ted Cole. Eines Tages war ich in Ihrem Geschäft, und Sie haben mir einen Job angeboten. Aber vielleicht erinnern Sie sich, daß ich, wenn auch kurz, Marion Coles Liebhaber war?«)
Penny Pierce nahm in ihrer Antwort kein Blatt vor den Mund. (»Hallo, mein Lieber. Ob ich mich an Sie erinnere? Wer könnte sechzigmal in – wieviel waren es? – sechs oder sieben Wochen vergessen? Wenn Sie einen Ferienjob suchen, haben Sie einen.«)
Neben seinem Job im Rahmengeschäft wurde Eddie natürlich Mrs. Pierces Liebhaber. Der Sommer 1960 begann damit, daß Eddie ein Gästezimmer in Mrs. Pierces kürzlich erworbenem Haus in der First Neck Lane bezog, bis er selbst eine geeignete Bleibe gefunden hatte. Aber die beiden wurden ein Liebespaar, bevor es dazu kam – offen gestanden, bevor Eddie überhaupt zu suchen begann. Penny Pierce war froh, daß Eddie das große, leere Haus mit etwas mehr Leben füllte.
Allerdings waren mehr als nur neue Tapeten und Möbelbezüge nötig, um die tragische Atmosphäre zu vertreiben, die auf dem Haus lastete. Eine Witwe, eine gewisse Mrs. Mountsier, hatte hier vor kurzem Selbstmord begangen, worauf ihr einziges Kind – eine Tochter, die noch aufs College ging und sich der Mutter in der Zeit vor ihrem Tod angeblich sehr entfremdet hatte – das ganze Anwesen mit allem, was dazugehörte, verkaufte.
Eddie sollte nie erfahren, daß Mrs. Mountsier eben jene Frau war, die er in der Einfahrt des Coleschen Hauses irrtümlicherweise für Marion gehalten hatte, und erst recht nicht, welche Rolle Ted in dieser unglücklichen Mutter-Tochter-Geschichte gespielt hatte.
Im Sommer 1960 hatte Eddie weder mit Ted Kontakt, noch bekam er Ruth zu Gesicht. Allerdings sah er etliche Fotos von ihr, die Eduardo Gomez zum Rahmen in Penny Pierces Geschäft gebracht hatte. Von Penny erfuhr er, daß in den zwei Jahren, seit Marion die Fotos von Ruths toten Brüdern mitgenommen hatte, als Ersatz nur wenige neue Fotos zum Rahmen hergebracht worden waren. Es waren lauter Fotos von Ruth, und alle wirkten so gestellt wie das halbe Dutzend, das Eddie zu sehen bekam. Sie strahlten nichts von dem natürlichen Charme jener vielen hundert Schnappschüsse von Thomas und Timothy aus. Ruth war ein nüchternes, nachdenkliches Kind, das argwöhnisch in die Kamera blickte; wenn es hin und wieder gelang, ihr ein Lächeln zu entlocken, wirkte es gezwungen.
In den zwei Jahren war Ruth gewachsen; sie trug ihr Haar, das jetzt dunkler und länger war, häufig zu Zöpfen geflochten. Penny Pierce machte Eddie darauf aufmerksam, wie sorgfältig die Zöpfe geflochten waren und daß offenbar großer Wert auf die Schleifen gelegt wurde. Das konnte weder Teds Werk sein, meinte Penny, noch das der sechsjährigen Ruth. (Verantwortlich für Zöpfe und Schleifen war Conchita Gomez.)
»Sie ist ein niedliches kleines Mädchen«, sagte Penny Pierce über Ruth, »aber ich fürchte, sie wird nie so gut aussehen wie ihre Mutter – nicht annähernd.«
Nachdem Eddie im Sommer 1958 schätzungsweise sechzigmal mit Marion geschlafen hatte, lebte er fast zwei Jahre lang enthaltsam. In seinem letzten Jahr in Exeter qualifizierte er sich für den Kurs Englisch 4W – das W stand für Creative Writing –, und hier, unter Mr. Havelocks Anleitung, begann Eddie, über die sexuelle Initiation eines jungen Mannes in den Armen einer älteren Frau zu schreiben.
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