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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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mitnimmt, daß du zu weinen anfängst und die Straße vor lauter Tränen nicht mehr richtig sehen kannst … stell dir vor, du heulst dir aus irgendeinem Grund die Augen aus dem Kopf …«
    »Okay, okay, ich hab’s kapiert!«
    »Also. Solltest du jemals so weinen müssen, daß du die Straße nicht mehr sehen kannst, dann fahr einfach rechts ran und halt an.«
    »Was war mit dem Unfall?« fragte Ruth. »Warst du dabei? Wart ihr im Auto, Mummy und du?«
    Ruth saß am flachen Ende des Swimmingpools und spürte, wie das Eis auf ihrer Schulter schmolz; das kalte Rinnsal glitt ihr Schlüsselbein entlang und bahnte sich den Weg über ihre Brust ins wärmere Wasser des Pools. Die Sonne war hinter der hohen Ligusterhecke verschwunden.
    Sie mußte an Graham Greenes Vater denken, den Schulmeister, der seinen Schülern (die ihn verehrten) zum Teil eigenartige, aber auf ihre Art charmante Ratschläge gegeben hatte: »Vergiß nicht, deiner zukünftigen Frau treu zu sein«, sagte er 1918 zu einem Jungen, der die Schule verließ und in die Army eintrat. Und zu einem anderen sagte Charles Greene unmittelbar vor der Konfirmation: »Ein Heer von Frauen lebt von der Lust der Männer.«
    Wo war dieses »Heer von Frauen« geblieben? Vermutlich war Hannah eine der verschollenen Soldatinnen dieses angeblichen Heers.
    So weit Ruth sich erinnern konnte – nicht erst, seit sie zu lesen angefangen hatte, sondern seit ihr Vater ihr zum erstenmal eine Geschichte erzählt hatte –, waren Bücher und die darin vorkommenden Gestalten zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden und hatten sich dort eingenistet. Bücher und Buchgestalten hatten sich mehr in ihrem Leben »eingenistet« als ihr Vater und ihre beste Freundin – von den Männern in ihrem Leben, die sich größtenteils als fast so unzuverlässig erwiesen hatten wie Ted und Hannah, ganz zu schweigen.
    »Mein ganzes Leben lang«, schrieb Graham Greene in seiner Autobiographie mit dem Titel Eine Art Leben , »habe ich instinktiv alles gelassen, wozu ich kein Talent habe.« Ein guter Instinkt, aber würde Ruth ihm folgen, hätte sie zwangsläufig gar nichts mehr mit Männern zu tun. Von den Männern, die sie kennengelernt hatte, schien ihr allein Allan bewundernswert und beständig; doch während sie im Pool saß und sich auf ihr Probematch mit Scott Saunders vorbereitete, hatte sie andauernd Allans Wolfszähne vor Augen. Und die Haare auf seinen Handrücken – zu viele Haare für ihren Geschmack.
    Es hatte ihr keinen Spaß gemacht, mit Allan Squash zu spielen. Er war ein guter Sportler und hatte einen guten Trainer gehabt, aber er war einfach zu groß und breit für einen Squashcourt – zu gefährlich bei seinen Ausfallschritten und Drehbewegungen. Dabei hätte Allan nie versucht, sie zu verletzen oder einzuschüchtern. Obwohl Ruth zweimal gegen ihn verloren hatte, bezweifelte sie nicht, daß sie ihn irgendwann schlagen würde. Sie mußte nur lernen, ihm aus dem Weg zu gehen und gleichzeitig keine Angst vor seinem Rückhand-Drive zu haben. Die beiden Male, die sie gegen ihn verloren hatte, hatte sie die T-Position aufgegeben. Sie war fest entschlossen, ihm diese strategisch optimale Position beim nächstenmal, sofern es ein nächstes Mal gab, nicht zu überlassen. Während der letzte Rest Eis wohltuend schmolz, dachte Ruth: Schlimmstenfalls handle ich mir eine aufgeplatzte Augenbraue ein oder ein gebrochenes Nasenbein. Außerdem hätte Allan, wenn er sie mit seinem Schläger traf, ein furchtbar schlechtes Gewissen. Und danach würde er ihr die beherrschende Position auf dem Court überlassen. Sie würde ihn im Handumdrehen problemlos besiegen, ob er sie nun mit seinem Schläger traf oder nicht. Dann dachte sie: Weshalb soll ich mir überhaupt Mühe geben, ihn zu besiegen?
    Wie konnte sie jemals in Betracht ziehen, die Männer aufzugeben? Wo es doch die Frauen waren, denen sie viel weniger über den Weg traute.
    Sie hatte in der Kühle des schattigen Spätnachmittags zu lange im Swimmingpool gesessen; dazu kam die klamme Kälte der Eispackung, die auf ihrer Schulter geschmolzen war. Trotz des Spätsommerwetters war ihr, als streifte sie ein Hauch November. Er erinnerte sie an jenen Abend im November 1969, an dem ihr Vater ihr, wie er ankündigte, »die letzte Fahrstunde« geben und »die vorletzte Fahrprüfung« abnehmen wollte.
    Sie wurde erst im Frühjahr sechzehn und bekam erst dann ihre Fahrschülererlaubnis – die Führerscheinprüfung bestand sie später völlig problemlos

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