Witwe für ein Jahr (German Edition)
sie nicht vor zwei oder drei Uhr nachmittags in Sagaponack loszufahren brauchte.
Es sah Ruth ähnlich, daß sie versuchte, alles zu organisieren, daß sie versuchte, ihrem Leben die Struktur zu geben, die ihre Romane hatten. (»Du glaubst immer, du kannst alle Eventualitäten einplanen«, hatte Hannah ihr einmal vorgeworfen. Ruth glaubte wirklich, daß sie das konnte oder zumindest tun sollte.)
Das einzige, was sie hätte tun sollen, aber unterließ, war, Allan anzurufen. Statt dessen ließ sie das Telefon klingeln, ohne dranzugehen.
Die zwei Flaschen Weißwein hatten ihr zwar keinen Kater beschert, aber doch einen sauren Geschmack im Mund hinterlassen, und ihr Magen wehrte sich gegen ein solides Frühstück. Ruth entdeckte ein paar Erdbeeren, einen Pfirsich und eine Banane. Sie tat alles in den Mixer und gab Orangensaft und drei gehäufte Eßlöffel von dem bevorzugten Proteinpräparat ihres Vaters dazu; das Ergebnis schmeckte wie kalte, flüssige Hafergrütze, doch danach fühlte sie sich wie ein Ball, der von der Wand abprallt, und genau das hatte sie erreichen wollen.
Sie vertrat den dogmatischen Standpunkt, daß es beim Squash nur vier gute Schläge gab.
Am Vormittag wollte sie den Drive und den Cross-Court üben – beide lange und ausgiebig. Außerdem gab es an der Stirnwand der Scheune einen toten Punkt; er befand sich in Höhe des Oberschenkels, ein Stück links von der Mitte, deutlich unter der Aufschlaglinie. Ihr Vater hatte ihn hinterlistig mit farbiger Kreide markiert. Sie wollte üben, diesen Punkt zu treffen, denn man konnte den Ball so fest schlagen, wie man wollte, wenn man diese Stelle traf, »starb« der Ball einfach; er fiel von der Wand ab wie ein Drop. Auch an ihrem harten Aufschlag wollte sie intensiv arbeiten. Alle harten Schläge wollte sie am Vormittag üben. Anschließend würde sie ihre Schulter in Eis packen, vielleicht während sie am flachen Ende des Pools saß, vor und nach einem leichten Mittagessen.
Am Nachmittag wollte sie den Drop trainieren. Außerdem beherrschte Ruth zwei gute Winkelschläge – einen von der Courtmitte aus, den anderen aus einer Position dicht an der Seitenwand. Einen Reverse Angle spielte sie nur selten; in ihren Augen war das ein riskanter Schlag mit niedriger Trefferquote, und riskante Schläge mochte sie nicht.
An ihrem weichen Aufschlag wollte sie ebenfalls am Nachmittag arbeiten. Wegen der niedrigen Decke in der Scheune würde sie das Aufschlagen mit einem Lob gar nicht erst versuchen, aber ihr Halb-Lob hatte sich in letzter Zeit verbessert. Wenn sie den Aufschlag anschnitt und knapp über die Aufschlaglinie an der Stirnwand zielte, traf der Ball sehr weit unten an der Seitenwand auf und sprang kaum mehr vom Boden ab.
Es war noch früh am Morgen, als Ruth aus dem unteren Teil der Scheune, in dem ihr Vater in den kalten Monaten sein Auto abstellte, die Leiter emporkletterte und die Falltür über ihrem Kopf aufdrückte. (Für gewöhnlich blieb sie geschlossen, damit keine Wespen und andere Insekten nach oben gelangen konnten und im Squashcourt landeten.) Vor dem Court im oberen Teil der Scheune, der früher als Heuboden gedient hatte, gab es ein ganzes Sortiment Schläger und Bälle, Handgelenksbandagen und Schutzbrillen. An der Tür zum Court hing eine graue Fotokopie von Ruths Exeter-Mannschaft; sie stammte aus dem PEAN von 1973, dem Jahrbuch aus ihrem Abschlußjahr. Ruth stand in der ersten Reihe ganz rechts in der Schulmannschaft der Jungen. Ihr Vater hatte das Foto aus dem Jahrbuch kopiert und es voller Stolz an die Tür geheftet.
Ruth riß die Fotokopie von der Tür und zerknüllte sie. Sie betrat den Squashcourt und machte erst eine Zeitlang Dehnübungen – erst die Achillessehnen, dann die Waden, zuletzt die rechte Schulter. Sie begann immer mit dem Gesicht zur linken Seitenwand zu schlagen; sie fing gern mit der Rückhand an. Dann schlug sie Volleys und Cross-Courts, bevor sie sich an die harten Aufschläge machte. Die letzte halbe Stunde schlug sie nichts anderes; sie trainierte so lange, bis jeder Aufschlag genau dort landete, wo sie ihn haben wollte.
Leck mich am Arsch, Hannah! dachte Ruth. Der Ball prallte von der Stirnwand ab, als wäre er lebendig. Scheiß auf dich, Daddy! sagte sie sich. Der Ball flog wie eine Biene oder Wespe, nur viel schneller. Diesen Ball konnte ihr imaginärer Gegner niemals als Volley annehmen. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als ihm auszuweichen.
Sie hörte nur auf, weil sie das Gefühl hatte,
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