Witwe für ein Jahr (German Edition)
fünfzehn war und ihr Vater ihr das Autofahren beibrachte.
Mehr als zehn Jahre lang hatte sie ihren Vater gebeten, ihr von dem Unfall zu erzählen, bei dem Thomas und Timothy ums Leben gekommen waren, aber er hatte sich geweigert.
»Wenn du alt genug dafür bist, Ruthie, wenn du Auto fahren kannst«, hatte er jedesmal gesagt.
Sie fuhren jeden Tag, meistens gleich am Morgen, auch an den Sommerwochenenden, wenn die Hamptons überlaufen waren. Ted wollte, daß sich Ruth an schlechte Autofahrer gewöhnte. In diesem Sommer fuhr er mit ihr in seinem alten, weißen Volvo auch oft am Sonntagabend los, wenn sich der Verkehr auf dem Montauk Highway in Richtung Westen staute und sich die Ungeduld der Wochenendurlauber auf ihr Fahrverhalten übertrug; sie konnten es nicht erwarten, endlich nach New York zurückzukehren. Ted fuhr so lange, bis sie in »ein richtig schönes Kuddelmuddel« gerieten, wie er es nannte. Dann kam der Verkehr meist ganz zum Stillstand, und die ersten Idioten überholten bereits rechts am unbefestigten Straßenrand, während andere aus der Autoschlange auszubrechen versuchten, um umzukehren und in ihre Sommerdomizile zurückzukehren – nur um ein oder zwei Stunden abzuwarten oder sich einen hinter die Binde zu gießen, bevor sie sich wieder auf den Weg machten.
»Das sieht nach einem richtig schönen Kuddelmuddel aus, Ruthie«, pflegte ihr Vater in solchen Fällen zu sagen.
Und dann tauschten sie die Plätze, nicht selten während ein wütender Fahrer hinter ihnen kräftig auf die Hupe drückte. Natürlich gab es auch Seitenstraßen; Ruth kannte sie alle. Selbst wenn sich die Fahrzeuge auf dem Montauk Highway zentimeterweise voranschoben, schaffte sie es, aus dem dichten Verkehr auszuscheren und auf kleineren Verbindungsstraßen parallel zum Highway flott weiterzufahren und sich dann wieder in die Autoschlange einzufädeln. Wenn ihr Vater sich dann umdrehte, sagte er: »Wie es aussieht, hast du ungefähr sieben Autos hinter dir gelassen, falls das da hinten derselbe blöde Buick ist, den ich vorher im Auge hatte.«
Manchmal fuhr sie die ganze Strecke bis zum Long Island Expressway, ehe ihr Vater meinte: »Machen wir Schluß für heute, Ruthie, sonst sind wir in Manhattan, ehe wir’s uns versehen!«
An manchen Sonntagabenden war der Verkehr so wüst, daß Ruths Vater es für einen ausreichenden Beweis ihrer Fahrkunst hielt, wenn sie nur eine 180-Grad-Wende machte und wieder nach Hause fuhr.
Er schärfte ihr ein, immer den Rückspiegel im Auge zu behalten, und natürlich wußte sie, daß sie, wenn sie beim Linksabbiegen anhalten und den entgegenkommenden Verkehr abwarten mußte, nie, absolut niemals, die Räder nach links einschlagen durfte. »Nie, grundsätzlich nie!« hatte ihr Vater ihr von der ersten Fahrstunde an eingebleut. Doch was genau mit Thomas und Timothy passiert war, hatte er ihr noch immer nicht gesagt. Ruth wußte nur, daß Thomas gefahren war.
»Geduld, Ruthie, Geduld«, wiederholte ihr Vater ein ums andere Mal.
»Ich bin doch geduldig, Daddy«, entgegnete Ruth dann. »Ich warte noch immer darauf, daß du mir von dem Unfall erzählst, oder etwa nicht?«
»Ich meine, du mußt beim Autofahren geduldig sein, Ruthie. Sei immer geduldig, wenn du fährst.«
Der Volvo hatte, wie alle seine Vorgänger, die Ted sich seit den sechziger Jahren zugelegt hatte, eine Gangschaltung. (Ted empfahl seiner Tochter, keinem jungen Mann zu trauen, der einen Wagen mit Automatikgetriebe fuhr.) »Und wenn ich fahre und du neben mir sitzt, schaue ich dich grundsätzlich nicht an, egal, was du sagst oder ob du einen Anfall kriegst. Nicht mal, wenn du zu würgen anfängst«, erklärte Ted. »Wenn ich fahre, kann ich mich mit dir unterhalten, aber ich sehe dich nicht an, niemals. Und wenn du fährst, siehst du weder mich noch sonst einen Beifahrer an. Dafür mußt du erst an den Straßenrand fahren und anhalten. Hast du das verstanden?«
»Verstanden«, bestätigte Ruth.
»Und wenn du mit einem Jungen ausgehst, der beim Fahren aus irgendeinem Grund zu dir rüberschaut, dann machst du ihm klar, daß du aussteigst und zu Fuß weitergehst, wenn er dich noch einmal ansieht. Oder du verlangst, daß er dich ans Steuer läßt. Hast du auch das verstanden?« fragte ihr Vater.
»Ich habe es verstanden«, sagte Ruth. »Und jetzt sag mir endlich, was mit Thomas und Timothy passiert ist.«
Aber Ted fuhr unbeirrt fort: »Und wenn du aufgeregt bist, wenn du zum Beispiel plötzlich an was denken mußt, was dich so
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