Witwe für ein Jahr (German Edition)
holen wollen.
Ihr Vater wachte erst auf, als sie durch Bridgehampton fuhr. »Wieso hast du nicht die Nebenstraßen genommen?« wollte er wissen.
»Ich hatte das Bedürfnis, die Lichter der Stadt um mich zu haben und die Scheinwerfer der anderen Autos«, entgegnete Ruth.
»Soso«, sagte ihr Vater, als würde er gleich wieder einschlafen.
»Was für ein Schuh war es eigentlich?« fragte Ruth.
»Ein Basketballschuh, Timmys Lieblingsschuh.«
»Ein Knöchelschoner?« vermutete sie.
»Genau.«
»Alles klar«, sagte Ruth und bog in die Sagg Main ein. Obwohl sich in diesem Moment keine anderen Fahrzeuge in Sichtweite des Volvos befanden, setzte sie volle fünfzig Meter, bevor sie abbog, den Blinker.
»Gut gemacht, Ruthie«, sagte ihr Vater. »Solltest du jemals eine härtere Fahrt absolvieren müssen als diese, verlasse ich mich darauf, daß du dich daran erinnerst, was du gelernt hast.«
Ruth fröstelte, als sie endlich aus dem Pool stieg. Sie wußte, daß sie sich aufwärmen sollte, bevor sie mit Scott Saunders Squash spielte, aber sowohl die Erinnerungen an ihre Fahrstunden als auch die Graham-Greene-Biographie hatten sie deprimiert. Es war nicht Norman Sherrys Schuld, aber die Biographie hatte eine Wendung genommen, die Ruth sehr mißfiel. Sherry war überzeugt, daß es zu jeder wichtigen Romanfigur bei Greene ein lebendes Pendant gab. In einem Interview in der Times hatte Greene V.S. Pritchett gestanden: »Ich kann nichts erfinden.« Dennoch hatte er im selben Interview, nachdem er zugegeben hatte, daß seine Romanfiguren »ein Amalgam aus Bruchstücken konkreter Menschen« seien, bestritten, daß sie dem wirklichen Leben entnommen waren. »Wirklich existierende Menschen werden von imaginären verdrängt …«, hatte er behauptet. »Wirkliche Menschen erlegen einem zu große Beschränkungen auf.« Doch Sherry ließ sich in seiner Biographie seitenlang und viel zu ausführlich über die »wirklichen Menschen« aus.
Besonders traurig fand Ruth Greenes frühes Liebesleben. Was sein Biograph als Greenes »zwanghafte Liebe« zu der »inbrünstigen Katholikin« bezeichnete, die schließlich seine Frau wurde, war genau das, was Ruth von einem Schriftsteller, dessen Bücher sie liebte, nicht wissen wollte. »Tief im Herzen eines Schriftstellers befindet sich ein Eissplitter«, hieß es in Greenes Autobiographie. In den Briefen jedoch, die er als junger Mann Tag für Tag an Vivien, seine zukünftige Frau, geschrieben hatte, konnte Ruth nur den vertrauten Gefühlsüberschwang eines Mannes erkennen, der bis über beide Ohren verliebt ist.
Ruth war noch nie bis über beide Ohren verliebt gewesen. Vielleicht trug die Tatsache, daß ihr bewußt war, wie verliebt Allan in sie war, dazu bei, daß sie seinen Heiratsantrag nicht annehmen wollte.
Auf Seite 338, am Beginn des vierundzwanzigsten Kapitels mit der Überschrift »Endlich verheiratet«, legte sie The Life of Graham Greene endgültig aus der Hand. Es war schade, daß sie hier zu lesen aufhörte, denn gegen Ende des Kapitels hätte sie etwas entdeckt, was ihr Graham Greene und seine zukünftige Frau vielleicht etwas sympathischer gemacht hätte. Als das Paar endlich verheiratet und auf der Hochzeitsreise war, übergab Vivien ihrem Mann einen versiegelten Brief, den sie von ihrer aufdringlichen Mutter erhalten hatte, »einen Brief mit Anleitungen zum Sex«. Sie übergab ihn Greene ungeöffnet. Dieser las ihn und zerriß ihn auf der Stelle. Vivien bekam den Brief nie zu Gesicht. Bestimmt hätte es Ruth imponiert, daß die junge Mrs. Greene der Meinung war, recht gut ohne die Ratschläge ihrer Mutter auskommen zu können.
Weshalb eigentlich fand sie die Kapitelüberschrift, dieses »Endlich verheiratet«, so deprimierend? Ob sie auch einmal mit diesem Gefühl heiraten würde? Die Formulierung hörte sich an wie der Titel eines Romans, den Ruth Cole nie schreiben würde und den sie auch nicht hätte lesen wollen.
Ruth überlegte, daß sie sich darauf beschränken sollte, lieber noch einmal Greenes Romane zu lesen; sie wußte, daß sie nicht noch mehr über sein Leben erfahren wollte. Wieder einmal brütete sie über das nach, was Hannah als ihr »Lieblingsthema« bezeichnete: die unermüdliche, eingehende Beschäftigung mit dem, was »echt«, und dem, was »erfunden« war. Doch der Gedanke an Hannah genügte bereits, um Ruth in die Gegenwart zurückzuholen.
Sie wollte nicht, daß Scott Saunders sie nackt im Pool sah, noch nicht.
Sie ging ins Haus und zog frische,
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