Witwe für ein Jahr (German Edition)
–, aber an jenem Novemberabend hatte ihr Vater, der sich einen Dreck um die Fahrschülererlaubnis scherte, sie gewarnt: »Ich hoffe um deinetwillen, Ruthie, daß du nie eine härtere Fahrprüfung zu bestehen hast als diese. Also los, fahren wir.«
»Wohin denn?« hatte sie gefragt. Es war der Sonntagabend nach dem langen Thanksgiving-Wochenende.
Der Pool war schon für den Winter abgedeckt, die Obstbäume hatten alle Blätter verloren; sogar die Hecke war kahl und stand da wie ein Skelett, das sich steif im Wind bewegte. Im Norden am Horizont sah man einen Lichtschimmer: die Scheinwerfer der Autos, die auf dem Montauk Highway in Richtung Westen bereits im Stau standen; Wochenendausflügler auf dem Rückweg nach New York. (Normalerweise dauert die Fahrt zwei Stunden, höchstens drei.)
»Heute abend habe ich Lust auf die Lichter von Manhattan«, erklärte Ted seiner Tochter. »Ich möchte sehen, ob in der Park Avenue schon alles weihnachtlich dekoriert ist. Und dann möchte ich auf einen Drink in die Bar des Stanhope gehen. Ich habe da mal einen Armagnac von 1910 getrunken. Natürlich trinke ich keinen Armagnac mehr, aber ich hätte gern wieder etwas so Feines. Vielleicht ein richtig gutes Glas Portwein. Also los, fahren wir.«
»Willst du heute abend wirklich nach New York fahren, Daddy?« fragte Ruth. Abgesehen vom Ende des Labor-Day-Wochenendes und dem Abend des 4. Juli (und vielleicht dem Memorial-Day-Wochenende) gab es wohl kaum einen schlimmeren Abend, um nach New York zu fahren.
»Nein, ich will nicht nach New York fahren, Ruthie, ich kann nicht fahren, weil ich was getrunken habe. Drei Bier und eine ganze Flasche Rotwein. Und ich habe deiner Mutter fest versprochen, daß ich nie mehr trinken und fahren werde, jedenfalls nicht, wenn du im Auto sitzt. Du wirst fahren, Ruthie.«
»Ich bin noch nie nach New York gefahren«, sagte Ruth. Aber sonst wäre es ja auch keine Fahrprüfung gewesen.
Als sie endlich bei Manorville auf den Long Island Expressway kamen, sagte Ted: »Fahr auf die Überholspur, Ruthie. Achte auf die Geschwindigkeitsbegrenzung. Und denk an den Rückspiegel. Wenn jemand von hinten kommt und du genug Zeit und vor allem genug Platz hast, um in die mittlere Spur auszuweichen, dann tu das. Wenn aber einer von hinten kommt, der ganz versessen darauf ist, zu überholen, dann laß ihn rechts überholen.«
»Ist das nicht verboten, Daddy?« fragte sie. Soviel sie wußte, gab es Einschränkungen für Fahrschüler – zum Beispiel durften sie nicht nachts fahren und sich nicht weiter als fünfzehn Meilen vom Wohnort entfernen. Sie wußte nicht, daß sie schon die ganze Zeit verbotenerweise gefahren war, weil sie keine Fahrschülererlaubnis hatte.
»Man kann nicht alles, was man lernen muß, auf legale Weise lernen«, erwiderte ihr Vater.
Ruth mußte sich so auf das Fahren konzentrieren, daß sie diesmal ausnahmsweise nicht nachfragte, was mit Thomas und Timothy geschehen war. Ted wartete, bis sie sich Flushing Meadows näherten; dann, ohne jede Vorwarnung, begann er ihr die Geschichte genau so zu erzählen, wie er sie Eddie O’Hare erzählt hatte – in der dritten Person, so, als wäre Ted Cole nur eine weitere Figur in der Geschichte, noch dazu eine unwichtige.
An der Stelle, an der es darum ging, wieviel er und Marion getrunken hatten und weshalb klar war, daß Thomas fahren sollte, weil er als einziger nüchtern war, unterbrach Ted seine Erzählung, um Ruth zu sagen, sie solle aus der Überholspur auf die ganz rechte Spur überwechseln. »Du fährst hier auf den Grand Central Parkway, Ruthie«, sagte er beiläufig. Sie mußte etwas zu rasch Spuren wechseln, aber sie schaffte es. Wenig später tauchte zu ihrer Rechten das Shea Stadium auf.
An dem Punkt der Geschichte, an dem Ted und Marion sich stritten, wo Thomas am besten links abbiegen sollte, unterbrach Ted sich abermals, diesmal, um Ruth zu sagen, sie solle den Northern Boulevard durch Queens nehmen.
Sie wußte, daß der alte, weiße Volvo im Stop-and-go-Verkehr leicht heißlief, doch als sie ihren Vater darauf hinwies, sagte er nur: »Bleib einfach möglichst wenig auf der Kupplung, Ruthie. Wenn du eine Zeitlang stehenbleiben mußt, tu den Gang raus und tritt auf die Bremse. Nimm den Fuß von der Kupplung, sooft es geht. Und denk an den Rückspiegel.«
Inzwischen weinte sie. Es war nach der Szene mit dem Schneepflug, als ihre Mutter wußte, daß Thomas tot war, aber noch nicht, was mit Timothy los war. Immer wieder fragte Marion
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