Witwe für ein Jahr (German Edition)
ihr rechter Arm würde gleich abfallen. Dann zog sie sich bis auf die Haut aus, setzte sich auf die unterste Stufe am flachen Poolende und genoß die Eispackung, die sich ihrer rechten Schulter genau anpaßte. Bei dem herrlichen Spätsommerwetter schien ihr die Mittagssonne warm aufs Gesicht. Das kühle Wasser bedeckte ihren Körper bis auf die Schultern; die rechte Schulter war vom Eis unerträglich kalt, aber in ein paar Minuten würde sie herrlich taub sein.
Das Phantastische an einem so langen und harten Schlagtraining war, daß Ruth anschließend einen völlig leeren Kopf hatte. Sie dachte nicht an Scott Saunders und was sie mit ihm anstellen würde, nachdem sie Squash gespielt hatten. Sie dachte nicht an ihren Vater und was sie seinetwegen unternehmen konnte. Sie dachte nicht einmal an Allan, den sie hätte anrufen sollen. Und auch nicht an Hannah – nicht eine Sekunde lang.
Während sie in der Sonne im Pool saß, anfangs das Eis spürte, dann nicht mehr, verflüchtigte sich alles ringsum. (So wie der Tag, wenn sich die Nacht herabsenkt, oder die Nacht, wenn die Dämmerung heraufzieht.) Wenn das Telefon klingelte, was wiederholt der Fall war, verschwendete Ruth auch daran keinen Gedanken.
Hätte Scott Saunders Ruths morgendliches Training mitbekommen, hätte er ihr vorgeschlagen, lieber Tennis zu spielen oder vielleicht nur zusammen zu essen. Hätte Ruths Vater ihre letzten zwanzig Aufschläge gesehen, hätte er gewußt, daß es klüger war, nicht nach Hause zu kommen. Hätte Allan Albright auch nur geahnt, wie vollständig Ruth ihr Hirn abgeschaltet hatte, hätte er sich große Sorgen gemacht. Und hätte Hannah, die noch immer Ruths beste Freundin war – jedenfalls kannte sie Ruth noch immer besser als sonst jemand –, Ruths mentale und körperliche Vorbereitungen miterlebt, hätte sie gewußt, daß Scott Saunders, dem rötlichblonden Anwalt, ein Tag (und eine Nacht) bevorstand, der ihm ungleich mehr abverlangen würde als ein paar rasante Runden Squash.
Ruth erinnert sich, wie sie Auto fahren lernte
Am selben Nachmittag, nachdem Ruth ihre weichen Schläge trainiert hatte, saß sie am flachen Ende des Pools, die Schulter in Eis gepackt, und las The Life of Graham Greene .
Besonders gut gefiel ihr der Abschnitt über die ersten Worte des kleinen Graham. »Armer Hund« war angeblich das erste, was er sagte, und es bezog sich auf den Hund seiner Schwester, der von einem Auto überfahren worden war. Das Kindermädchen hatte das tote Tier neben ihn in den Kinderwagen gelegt.
Über Greene als Kind schrieb sein Biograph: »Obwohl er noch so klein war, müssen ihm der Tierkadaver, der Geruch, womöglich der Anblick von Blut, vielleicht auch die im Augenblick des Verendens knurrend über die Zähne zurückgezogenen Lefzen ein instinktives Bewußtsein dafür vermittelt haben, was Tod bedeutet. Mußte er nicht zunehmende Panik verspürt haben, ja abgrundtiefen Ekel, als er sich eingeschlossen sah, unentrinnbar dazu gezwungen, den knapp bemessenen Platz in seinem Kinderwagen mit einem toten Hund zu teilen?«
Es gibt Schlimmeres, dachte Ruth. »In der Kindheit«, hatte Greene (in seinem Roman Zentrum des Schreckens ) geschrieben, »leben wir im hellen Licht der Unsterblichkeit – der Himmel ist nah und wirklich wie der Meeresstrand. Neben den komplizierten Einzelheiten der Welt stehen die einfachen Wahrheiten: Gott ist gut, die Erwachsenen, Männer wie Frauen, wissen die Antworten auf alle Fragen, es gibt so etwas wie Wahrheit, und die Gerechtigkeit ist so fein austariert und funktioniert so perfekt wie eine Uhr.«
Ruths Kindheit war nicht so gewesen. Ihre Mutter war fortgegangen, als sie vier war; einen Gott gab es nicht; ihr Vater sagte nicht die Wahrheit oder weigerte sich, ihre Fragen zu beantworten – oder beides. Was die Gerechtigkeit anging, so hatte ihr Vater mit mehr Frauen geschlafen, als Ruth zählen konnte.
Mit dem, was Greene in Die Kraft und die Herrlichkeit über das Thema Kindheit geschrieben hatte, konnte Ruth mehr anfangen: »Es gibt immer einen Moment in der Kindheit, in dem sich eine Tür öffnet und die Zukunft einläßt.« O ja, da mußte Ruth ihm recht geben. Nur gibt es manchmal mehr als einen Augenblick, hätte sie eingewandt, weil es mehr als eine Zukunft gibt. Zum Beispiel gab es den Sommer 1958, den ganz offensichtlichen Zeitpunkt, zu dem sich für sie die angebliche »Tür« geöffnet und die »Zukunft« eingelassen hatte. Aber es gab auch das Frühjahr 1969, in dem Ruth
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