Witwe für ein Jahr (German Edition)
daß unter ihnen ein grauenhafter amerikanischer Mensch der Spezies Unerträglicher Intellektueller ist. Und noch eine amerikanischer Autorin, weniger bekannt, aber nicht weniger grauenhaft; sie gehört der Fraktion »Pornographie verletzt meine Bürgerrechte« an.
Dann ist noch ein junger deutscher Romanautor dabei, dessen Bücher in Kanada auf den Index gesetzt wurden. Er wurde wegen Obszönität verklagt, höchstwahrscheinlich nicht ganz unberechtigt. Den konkreten Vorwurf kann man nur schwer vergessen: Eine seiner Romanfiguren verkehrt mit Hühnern; der Mann wird in einem todschicken Hotel mit einem Huhn erwischt. Schrilles Gackern veranlaßt das Hotelpersonal zu dieser Entdeckung. Außerdem hatte sich das Zimmermädchen über herumfliegende Federn beschwert.
Doch verglichen mit den anderen Diskussionsteilnehmern ist der deutsche Autor interessant.
»Ich bin eine humoristische Autorin«, werde ich zweifellos irgendwann sagen; das sage ich immer. Die Hälfte der Zuhörer (und mehr als die Hälfte der anderen Diskussionsteilnehmer) wird daraus schließen, daß ich keine ernstzunehmende Schriftstellerin bin. Aber der Humor steckt tief in einem Menschen drin. Ein Schriftsteller entscheidet sich nicht bewußt dafür. Man kann sich dafür entscheiden, etwas zu tun oder zu unterlassen. Man kann sich für bestimmte Figuren entscheiden. Aber der Humor unterliegt keiner Entscheidung; er kommt einfach von selbst.
Zu den Diskussionsteilnehmern gehört auch eine Engländerin, die ein Buch über ein »wiedergewonnenes Gedächtnis« geschrieben hat – ihr eigenes. Sie wachte eines Morgens auf und »erinnerte sich«, daß ihr Vater sie vergewaltigt hatte und daß ihre Brüder sie vergewaltigt hatten – und alle ihre Onkel. Der Großvater ebenfalls. Jeden Morgen wacht sie auf und »erinnert sich« an jemand anderen, der sie vergewaltigt hat. Sie muß völlig erschöpft sein!
Egal, wie hitzig die Debatte auf dem Podium verläuft, der junge deutsche Autor wird ein geistesabwesendes Gesicht machen, als gingen ihm heitere, romantische Gedanken durch den Kopf. Wahrscheinlich ein Huhn.
»Ich erzähle nur Geschichten«, werde ich noch einmal sagen (und noch einmal). »Ich habe kein Talent zum Verallgemeinern.«
Nur der Hühnerliebhaber wird mich verstehen. Er wird mir einen liebevollen Blick zuwerfen, etwas begehrlich vielleicht. Und seine Augen werden sagen: Mit ein paar rötlichbraunen Federn würdest du wahrscheinlich viel besser aussehen.
In Frankfurt, in meinem kleinen Zimmer im Hessischen Hof, trinke ich ein Bier, das nicht sehr kühl ist. Um Mitternacht bricht der dritte Oktober an – Deutschland ist wiedervereinigt. Im Fernsehen sehe ich mir die Feierlichkeiten in Bonn und Berlin an. Ein historischer Augenblick, allein in einem Hotelzimmer. Was kann man über die deutsche Wiedervereinigung sagen? Sie ist schon vollzogen.
Habe die ganze Nacht gehustet. Rief heute morgen meinen Verleger an, dann den Pressemenschen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Mitwirkung bei der Podiumsdiskussion abzusagen, denn ich muß mir meine Stimme für die Lesungen erhalten. Der Verleger schickte wieder Blumen. Der Pressemensch brachte mir ein Päckchen Hustenbonbons – mit Kräutern »aus naturgemässem Anbau im Schweizer Berggebiet«. Jetzt riecht mein Atem bei den Interviews nach Zitronenmelisse und wildem Thymian. Ich fand es noch nie so angenehm, Husten zu haben.
Im Aufzug traf ich die tragikomische Engländerin; so wie sie aussah, war sie zweifellos mit der wiedergewonnenen Erinnerung an eine weitere Vergewaltigung aufgewacht.
Beim Mittagessen im Hessischen Hof saß (an einem anderen Tisch) der deutsche Romanautor, der es mit Hühnern treibt; er wurde von einer Frau interviewt, die mich am Vormittag interviewt hatte. Mein Gesprächspartner beim Mittagessen war ein Journalist, der noch stärker hustete als ich. Und als ich danach allein an meinem Tisch saß und noch einen Kaffee trank, sah mich der junge deutsche Autor jedesmal an, wenn ich husten mußte – als wäre mir eine Feder im Hals steckengeblieben.
Ich finde meinen Husten wirklich herrlich. Er liefert mir einen Vorwand, ein ausgiebiges Bad zu nehmen und über meinen neuen Roman nachzudenken.
Im Aufzug steht, grotesk aufgebläht wie ein Heliumballon, ein kleiner Mann, der gräßliche Amerikaner der Spezies Unerträglicher Intellektueller. Er wirkt beleidigt, als ich zu ihm in den Aufzug trete. »Sie waren nicht bei der Podiumsdiskussion. Es hieß, Sie seien
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