Witwe für ein Jahr (German Edition)
den Reißverschluß ihrer Handtasche zu, während Rooie sie spöttisch anlächelte.
Als Ruth sich bemühte, ihr Lächeln zu erwidern, mußte sie wegen der Sonne blinzeln. Rooie streckte die Hand aus und berührte Ruths Gesicht. Interessiert betrachtete sie Ruths rechtes Auge, aber Ruth deutete den Grund dafür falsch. Schließlich passierte es ihr öfter, daß andere Leute den sechseckigen Fleck in ihrem Auge bemerkten, als daß jemand sie schlug.
»Den habe ich schon von Geburt an …«, sagte sie.
Aber Rooie fragte: »Wer hat dich geschlagen?« (Dabei hatte Ruth geglaubt, ihr blauer Fleck wäre vollständig abgeklungen.) »Vor ungefähr ein oder zwei Wochen, wie es aussieht …«
»Ein schlimmer Freund«, gestand Ruth.
»Dann gibt es also doch einen Freund«, meinte Rooie.
»Er ist nicht hier. Ich bin allein hier«, betonte Ruth.
»Du bist nur allein, bis du das nächste Mal zu mir kommst«, entgegnete Rooie. Sie konnte nur auf zwei Arten lächeln, spöttisch oder verführerisch. Nun lächelte sie verführerisch.
Ruth fiel nichts anderes ein, als zu sagen: »Sie sprechen erstaunlich gut Englisch.« Doch so zutreffend dieses etwas bissige Kompliment auch sein mochte, es hatte eine viel drastischere Wirkung auf Rooie, als Ruth vorausgesehen hatte.
Schlagartig fiel jede Großspurigkeit von der Prostituierten ab. Sie sah aus, als würde sie von einem alten Kummer eingeholt und überwältigt.
Schon wollte sich Ruth entschuldigen, doch ehe sie den Mund aufmachte, sagte die rothaarige Rooie verbittert: »Ich kannte mal einen Engländer, eine Zeitlang.« Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür. Ruth wartete, aber die Fenstervorhänge gingen nicht auf.
Eine der jüngeren, hübscheren Prostituierten auf der anderen Straßenseite warf Ruth einen finsteren, vorwurfsvollen Blick zu, als wäre sie persönlich gekränkt, daß Ruth ihr Geld für eine ältere, weniger attraktive Hure ausgab.
Sonst befand sich nur noch ein Fußgänger auf der kurzen Bergstraat, ein älterer Mann, der zu Boden blickte. Er sah keine einzige Prostituierte an, warf Ruth aber einen durchdringenden Blick zu, als er an ihr vorbeiging. Sie erwiderte den Blick, aber er hatte die Augen schon wieder auf das Kopfsteinpflaster geheftet und ging weiter.
Ruth ging ebenfalls weiter. Ihr Selbstvertrauen als Frau war erschüttert, nicht jedoch das der Schriftstellerin. Wie immer die mögliche Geschichte aussah – die wahrscheinlichste Geschichte, die beste Geschichte –, Ruth zweifelte nicht daran, daß sie ihr einfallen würde. Sie hatte noch nicht genug über ihre Figuren nachgedacht; das war alles. Nein, das Selbstvertrauen, das ihr abhanden gekommen war, hatte etwas mit Moral zu tun. Es hatte ganz zentral mit ihr als Frau zu tun, und was immer »es« war – Ruth stellte verwundert fest, daß »es« auf einmal nicht mehr da war.
Sie würde Rooie noch einmal aufsuchen, um mit ihr zu reden, aber nicht das bereitete ihr Unbehagen. Sie verspürte nicht den geringsten Wunsch nach irgendeinem sexuellen Erlebnis mit der Prostituierten, die zwar ihre Phantasie angeregt, sie selbst aber nicht erregt hatte. Ruth hielt es nach wie vor nicht für notwendig, Rooie mit einem Freier zu beobachten – weder in ihrer Eigenschaft als Schriftstellerin noch als Frau.
Unbehagen bereitete ihr vielmehr, daß sie Rooie unbedingt noch einmal aufsuchen mußte, nur um festzustellen, was als nächstes geschehen würde – wie in einer Geschichte. Und das bedeutete, daß Rooie die Fäden in der Hand hielt.
Ruth eilte in ihr Hotel zurück, wo sie, vor ihrem ersten Interview, nur einen Satz in ihr Tagebuch schrieb: »Nach landläufiger Überzeugung ist Prostitution eine Form von Vergewaltigung gegen Bezahlung; in Wirklichkeit scheint es, als hätte in der Prostitution – und vielleicht nur da – die Frau die Fäden in der Hand.«
Ruth gab ein zweites Interview beim Mittagessen und danach noch ein drittes und ein viertes. Anschließend hätte sie sich ausruhen sollen, weil für den frühen Abend eine Lesung anberaumt war, der eine Signierstunde und ein Abendessen folgten. Doch statt dessen saß sie in ihrem Hotelzimmer und schrieb und schrieb. Sie entwickelte so lange eine mögliche Geschichte nach der anderen, bis ihr letzten Endes alle unglaubwürdig erschienen. Wenn die Schriftstellerin, die eine Nutte bei der Arbeit beobachtet, sich durch dieses Erlebnis gedemütigt fühlen sollte, mußten die sexuellen Folgen dieses Erlebnisses ihr selbst
Weitere Kostenlose Bücher