Witwe für ein Jahr (German Edition)
widerfahren; es mußte sich um ihr eigenes sexuelles Erlebnis handeln. Warum sonst sollte sie sich gedemütigt fühlen?
Je mehr Mühe sich Ruth gab, sich in die Geschichte einzufühlen, die sie schrieb, um so mehr schob sie die Geschichte, die sie lebte, von sich weg und ging ihr aus dem Weg. Zum erstenmal erlebte sie, was es für ein Gefühl war, eine Romanfigur zu sein und nicht der Autor (der, der die Fäden in der Hand hat); Ruth sah sich tatsächlich als Figur in die Bergstraat zurückkehren, als Figur in einer Geschichte, die sie nicht schrieb.
Nun erlebte sie die gespannte Erwartung eines Lesers, der unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Sie wußte genau, daß sie es nicht schaffen würde, sich von Rooie fernzuhalten. Sie wollte um jeden Preis wissen, wie es weiterging. Was würde Rooie vorschlagen? Und was würde Ruth Rooie alles erlauben?
Wenn der Autor, und sei es nur für einen Augenblick, aus der Rolle des Verfassers tritt, welche Rollen bleiben ihm dann noch? Es gibt nur den Verfasser einer Geschichte und die Figuren, die darin vorkommen. Andere Rollen gibt es nicht. Ruth war noch nie so gespannt gewesen. Sie hatte das Gefühl, daß sie nicht den geringsten Wunsch hatte, zu steuern, was als nächstes geschehen würde; sie fand es herrlich, nicht verantwortlich zu sein. Es machte sie glücklich, nicht die Schriftstellerin zu sein. Bei dieser Geschichte war sie nicht die Autorin, und doch war sie davon hingerissen.
Ruth ändert ihre Geschichte
Ruth blieb nach der Lesung noch da, um Bücher zu signieren. Dann aß sie mit den Veranstaltern der Lesung zu Abend. Am nächsten Abend in Utrecht, nach ihrer Lesung an der dortigen Universität, signierte sie ebenfalls. Maarten und Sylvia waren Ruth beim Buchstabieren der holländischen Namen behilflich.
Die Jungen wollten in ihre Bücher geschrieben haben: »Für Wouter« – oder für Hein, Hans, Henk, Gerard oder Jeroen. Die Namen der Mädchen klangen für Ruth nicht weniger fremdartig. »Für Els« – oder Loes, Mies, Marijke oder Nel (mit einem l ). Und dann gab es noch Leser, die Wert darauf legten, daß die Widmung auch ihren Nachnamen enthielt (die Overbeeks, die van der Meulens und die van Meurs; die Blokhuises und die Veldhuizens; die Dijkstras, die de Groots und die Smits). Diese Autogrammstunden waren orthographisch derart anstrengend, daß Ruth beide Male Kopfschmerzen bekam.
Aber Utrecht und seine alte Universität waren wunderschön. Am frühen Abend, vor der Lesung, war Ruth mit Maarten und Sylvia und ihren erwachsenen Söhnen essen gegangen. Ruth konnte sich noch an die Zeit erinnern, als sie kleine Jungen gewesen waren; jetzt waren sie größer als sie, und einer hatte sich einen Bart wachsen lassen. Ruth, die mit sechsunddreißig noch immer kinderlos war, fand es immer wieder erschreckend und äußerst beunruhigend, wie schnell die Kinder der Paare in ihrem Bekanntenkreis groß wurden.
Auf der Rückfahrt nach Amsterdam erzählte Ruth Maarten und Sylvia im Zug, wie wenig Erfolg sie seinerzeit bei Jungen in ihrem Alter gehabt hatte, als sie selbst so alt war. (In dem Sommer, in dem sie mit Hannah Europa bereist hatte, waren die gutaussehenden jungen Männer immer auf Hannah geflogen und nicht auf sie.)
»Und jetzt ist es richtig peinlich. Jetzt mögen mich die jungen Männer, die so alt sind wie eure Söhne.«
»Du bist bei den jungen Lesern eben sehr beliebt«, sagte Maarten.
»Das hat Ruth nicht gemeint, Maarten«, erwiderte Sylvia. Ruth bewunderte sie: Sylvia war gescheit und attraktiv, sie hatte einen guten Ehemann und eine glückliche Familie.
»Ach so«, sagte Maarten. Er war ein sehr korrekter Mensch, und nun errötete er doch tatsächlich.
»Ich meine nicht, daß sich eure Jungen auf diese Weise von mir angezogen fühlen«, stellte Ruth rasch klar. »Ich spreche von Jungen, die so alt sind wie sie.«
»Wahrscheinlich fühlen sich unsere Jungen auch auf diese Weise zu dir hingezogen!« erklärte Sylvia und lachte über Maartens sichtliches Entsetzen. Maarten hatte gar nicht bemerkt, wie viele junge Männer Ruth umringten, wenn sie ihre Bücher signierte.
Es kamen auch viele junge Frauen, aber sie fanden Ruth als Rollenvorbild attraktiv – nicht nur als erfolgreiche Schriftstellerin, sondern auch als unverheiratete Frau, die mehrere Freunde gehabt hatte und trotzdem immer noch allein lebte. (Wieso das besonders reizvoll sein sollte, wußte Ruth nicht. Wenn ihre Fans nur gemerkt hätten, wie wenig ihr ihr Privatleben
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