Witwe für ein Jahr (German Edition)
ihre Hände unter denen der Prostituierten hervorziehen, ohne in diesen schrecklichen Sessel zurückzusinken.
»Denk daran: Alles kann geschehen«, sagte Rooie. »Alles, was du willst.«
»Ja«, flüsterte Ruth wieder. Sie starrte auf die nahezu entblößten Brüste der Frau; es schien ihr weniger riskant, als ihr in die klugen Augen zu blicken.
»Wenn du mich mit einem Freier beobachten würdest – ich meine, du allein –, würde dich das vielleicht auf ein paar Ideen bringen«, sagte Rooie, jetzt ebenfalls flüsternd.
Ruth schüttelte den Kopf, wobei ihr bewußt war, daß diese Geste viel weniger überzeugend wirkte, als wenn sie entschieden gesagt hätte: »Nein, das glaube ich nicht.«
»Die meisten Frauen, die mir allein zuschauen, sind junge Mädchen«, verkündete Rooie wieder etwas lauter; es klang verächtlich.
Ruth war so überrascht, daß sie Rooie unwillkürlich ins Gesicht sah. »Wieso junge Mädchen? Soll das heißen, daß sie wissen wollen, wie es ist, Sex zu haben? Sind sie noch Jungfrauen?«
Rooie ließ Ruths Hände los; lachend rutschte sie wieder auf ihr Bett zurück. »Sie sind alles andere als Jungfrauen!« sagte sie. »Es sind junge Mädchen, die sich überlegen, ob sie Prostituierte werden sollen. Sie wollen sehen, wie es ist, eine Prostituierte zu sein!«
Ruth war noch nie so schockiert gewesen; nicht einmal die Erkenntnis, daß Hannah es mit ihrem Vater trieb, hatte sie so aus der Fassung gebracht.
Rooie zeigte auf ihre Armbanduhr und stand in dem Moment von ihrem Bett auf, in dem sich Ruth aus dem tiefen Sessel hievte. Ruth mußte sich ziemlich verrenken, um sie nicht zu streifen.
Als Rooie die Tür zur Straße öffnete, war die Mittagssonne draußen plötzlich so grell, daß Ruth merkte, wie schwach die Beleuchtung im roten Zimmer der Prostituierten tatsächlich gewesen war. Rooie wandte sich vom Sonnenlicht ab und vertrat Ruth den Weg nach draußen, während sie ihr mit großer Geste drei Küsse auf die Wange drückte – rechts, links, dann noch einmal rechts. »So machen es die Holländer, dreimal«, sagte sie fröhlich; aus ihrer Stimme sprach eine Zuneigung, die eher zu alten Freundinnen gepaßt hätte.
Natürlich war Ruth schon so geküßt worden – von Maarten und seiner Frau Sylvia, wann immer sie sich begrüßt oder verabschiedet hatten –, aber Rooies Lippen verweilten etwas länger. Außerdem hatte sie ihre warme Hand auf Ruths Bauch gelegt, so daß Ruth instinktiv die Bauchmuskeln anspannte. »Was für einen flachen Bauch du hast«, meinte sie. »Hast du Kinder?«
»Nein, noch nicht«, antwortete Ruth. Der Ausgang war noch immer versperrt.
»Ich habe eines«, sagte Rooie. Sie hakte beide Daumen in das Taillenband ihres Bikinislips und zog es blitzschnell herunter. »Ich habe es auf die harte Tour bekommen«, fügte sie hinzu, womit sie auf die deutlich sichtbare Kaiserschnittnarbe anspielte. Nachdem Ruth zuvor Rooies Schwangerschaftsstreifen bemerkt hatte, wunderte sie sich über die Narbe nicht annähernd so wie darüber, daß sich die Prostituierte das Schamhaar abrasiert hatte.
Rooie ließ das Taillenband ihres Slips zurückschnappen. Ruth dachte: Wenn ich schon lieber schreibe, als das tue, was ich im Augenblick tue, kann ich mir vorstellen, wie ihr zumute ist. Schließlich ist sie eine Prostituierte; wahrscheinlich würde sie lieber ihre Arbeit tun, als mit mir zu flirten. Aber sie genießt es auch, mich in Verlegenheit zu bringen. Ruth, die sich jetzt über Rooie ärgerte, wollte einfach nur gehen. Sie versuchte, an ihr vorbei durch die Tür zu kommen.
»Du wirst zurückkommen«, sagte Rooie, ließ Ruth aber auf die Straße hinaus, ohne sie noch einmal zu berühren. Dann sagte sie mit erhobener Stimme, so daß jeder, der auf der Bergstraat vorüberging, und alle Prostituierten im Umkreis es hören konnten: »In dieser Stadt solltest du deine Handtasche lieber zumachen.«
Ruths Tasche stand offen, eine alte Nachlässigkeit, aber Brieftasche und Paß waren an ihrem Platz; alles andere auch, soweit sich das mit einem Blick feststellen ließ: ein Lippenstift und ein dickerer Stift mit farblosem Lip gloss; eine Tube Sonnenschutzcreme und eine Tube Feuchtigkeitscreme für die Lippen.
Außerdem hatte Ruth eine Puderdose bei sich, die ihrer Mutter gehört hatte. Gesichtspuder brachte sie immer zum Niesen; die Puderquaste war längst verlorengegangen. Doch manchmal, wenn Ruth in den kleinen Spiegel blickte, rechnete sie fast damit, ihre Mutter zu sehen. Sie zog
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