Witwe für ein Jahr (German Edition)
Sylvia, sie würde gern einen Rundgang durch den Rotlichtbezirk machen, und erzählte ihnen diesen Teil der Geschichte, soweit er ihr selbst klar war: daß ein junger Mann eine ältere Frau dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen; daß irgend etwas passiert, was die Frau so demütigt, daß sie ihr Leben ändert.
»Die Frau läßt sich auch deshalb darauf ein, weil sie sich einbildet, die Fäden in der Hand zu haben – und weil der junge Mann genau der Typ schöner Jüngling ist, der früher, als sie selbst in diesem Alter war, für sie unerreichbar war. Freilich ahnt sie nicht, daß er imstande ist, ihr Schmerz und Leid zuzufügen – zumindest glaube ich, daß das passiert«, setzte Ruth hinzu. »Es hängt alles davon ab, was bei der Prostituierten geschieht.«
»Und wann möchtest du den Rotlichtbezirk sehen?« fragte Maarten.
Ruth tat so, als wäre sie gerade erst auf diese Idee gekommen und hätte sich noch nichts Genaueres überlegt. »Wann es dir am besten paßt …«
»Wann würden denn deine Romanfiguren die Prostituierte aufsuchen?« fragte Maarten.
»Wahrscheinlich abends«, antwortete Ruth. »Sehr wahrscheinlich sind sie leicht angetrunken. Sie ganz bestimmt, denke ich, um sich Mut zu machen.«
»Wir könnten jetzt gleich gehen«, schlug Sylvia vor. »Es liegt nicht direkt auf dem Weg zu deinem Hotel, aber vom Bahnhof aus sind es zu Fuß nur fünf oder zehn Minuten.«
Ruth wunderte sich, daß Sylvia überhaupt in Betracht zog, sie zu begleiten. Ihr Zug würde erst kurz vor Mitternacht in Amsterdam ankommen. »Ist es so spät am Abend nicht gefährlich?« fragte Ruth.
»Da laufen jede Menge Touristen herum«, sagte Sylvia angewidert. »Das einzig Gefährliche sind die Taschendiebe.«
»Vor denen muß man sich auch tagsüber hüten«, meinte Maarten.
In De Walletjes – oder De Wallen , wie die Amsterdamer dazu sagen – herrschte viel mehr Betrieb, als Ruth angenommen hatte. Zwar sah man auch Junkies und betrunkene junge Männer, aber in den kleinen Straßen wimmelte es nur so von »normalen« Menschen: viele Pärchen, hauptsächlich Touristen (von denen einige Live-Sex-Shows besuchten) und sogar ein oder zwei Reisegruppen. Wäre es nicht so spät gewesen, hätte Ruth sich auch allein sicher gefühlt. Zu sehen gab es hier hauptsächlich Schäbiges – und die Leute, die, wie sie, hergekommen waren, um diese Schäbigkeit zu begaffen. Die Männer, die sich verstohlen umsahen und sich mit der Entscheidung für eine Prostituierte meist etwas länger Zeit ließen, fielen unter den ungenierten Sextouristen deutlich auf.
Für Ruth stand bald fest, daß ihre beiden Figuren weder die Zeit noch eine gute Gelegenheit haben würden, um auf eine Prostituierte zuzugehen, auch wenn sie in Rooies engem Zimmerchen selbst erlebt hatte, wie schnell die Welt draußen entschwindet, wenn man sich in die Absteige einer Prostituierten begibt. Ruths Paar würde entweder vor Tagesanbruch hierher kommen, wenn alle bis auf die schwer Drogensüchtigen (und Sexsüchtigen) nach Hause gegangen waren, oder sie würden es tagsüber oder am frühen Abend versuchen.
Seit Ruths letztem Besuch hatte sich im Amsterdamer Rotlichtbezirk einiges geändert: Die meisten Prostituierten waren keine Europäerinnen mehr. In einer Straße gab es fast nur Asiatinnen, vermutlich Thailänderinnen, wie man aufgrund der zahlreichen Thai-Massagesalons in der Umgebung annehmen durfte. Maarten bestätigte Ruths Vermutung. Er erklärte ihr auch, daß einige von ihnen früher Männer gewesen seien; angeblich hatten sie die für die Geschlechtsumwandlung erforderlichen Operationen in Kambodscha machen lassen.
Am Molensteeg und auf dem Oudekerksplein, dem Platz um die alte Kirche, traf man ausschließlich kaffeefarbene Nutten an. Sie kamen aus der Dominikanischen Republik und aus Kolumbien, wie Maarten ihr erklärte. Die aus Surinam, die Ende der sechziger Jahre nach Amsterdam kamen, waren alle wieder verschwunden.
In der Bloedstraat gab es Nutten, die wie Männer aussahen, hochgewachsene junge Frauen mit großen Händen und einem Adamsapfel. Die meisten von ihnen waren auch tatsächlich Männer, Transvestiten aus Ecuador, die Maarten zufolge in dem Ruf standen, ihre Freier zu verprügeln.
Natürlich gab es auch einige weiße Frauen, aber nicht nur Holländerinnen. Sie waren in der Sint Annenstraat und am Dollebegijnensteeg anzutreffen, außerdem in einer Gasse, bei der es Ruth lieber gewesen
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