Witwe für ein Jahr (German Edition)
trotzdem ein.
Ihrem Verhalten von vorher, das sie später als beschämend feige empfinden sollte – daß sie bewegungsunfähig und vor Angst wie gelähmt im Schrank verharrt hatte –, entsprach jetzt eine andere Art von Feigheit: Ruth verschwischte bereits ihre Spuren. Erst wünschte sie sich, sie wäre nie hiergewesen, dann gab sie vor, nie hiergewesen zu sein.
Sie brachte es nicht über sich, noch einen letzten Blick auf Rooie zu werfen. Sie blieb an der Tür zur Straße stehen, öffnete sie einen Spaltbreit und wartete eine Ewigkeit, bis sie in keiner anderen Tür mehr eine Prostituierte sehen konnte und keine Fußgänger mehr auf der Bergstraat waren. Dann trat sie rasch in das Licht des Spätnachmittags hinaus, das sie in Sagaponack so sehr liebte, das hier jedoch nur vom kühlen Hauch eines ausklingenden Herbsttages begleitet wurde. Sie überlegte, wem es wohl auffallen würde, wenn Rooie ihre Tochter nicht von der Schule abholte.
Gute zehn Minuten lang versuchte Ruth sich einzureden, daß sie nicht davonlief; so lange nämlich brauchte sie bis zur Polizeiwache in der Warmoesstraat in De Wallen. Sobald sie sich wieder im Rotlichtbezirk befand, wurden ihre Schritte deutlich langsamer. Die ersten beiden Polizisten, die sie erblickte, sprach sie nicht an; sie saßen hoch über ihr auf ihren Pferden. Und als sie den Eingang der Polizeiwache in der Warmoesstraat 48 erreichte, bekam sie plötzlich Angst. Statt hineinzugehen, kehrte sie in ihr Hotel zurück. Allmählich wurde ihr nicht nur klar, was für ein Feigling sie war, sondern auch, was für eine unzulängliche Augenzeugin.
Da ging sie, die weltberühmte Romanautorin mit ihrer großen Vorliebe für Details, doch als sie eine Prostituierte mit einem Freier beobachtete, hatte sie es versäumt, auf das wichtigste Detail überhaupt zu achten. Sie hätte den Mörder niemals identifizieren können; sie konnte ihn kaum beschreiben. Sie hatte es ganz bewußt vermieden, ihn anzusehen! Seine verkümmert wirkenden Augen, die sie so stark an den Maulwurfmann erinnert hatten, waren wohl kaum ein signifikantes Merkmal. Was Ruth von dem Mörder am deutlichsten in Erinnerung behalten hatte, war das Durchschnittliche an ihm – sein unauffälliges Äußeres.
Wie viele glatzköpfige Geschäftsleute mit dicken Aktentaschen mochte es geben? Nicht alle keuchten oder hatten Polaroidkameras größeren Formats bei sich – zumindest diese Kamera war heutzutage eine auffallende Besonderheit. Vermutlich arbeiteten nur Profis mit solchen Apparaten. Aber wie sehr schränkte das den Kreis der Verdächtigen ein?
Ruth Cole war Schriftstellerin, und Schriftsteller sind nicht in ihrem Element, wenn sie reden, ohne sich die Sache vorher überlegt zu haben. Sie hielt es für sinnvoll, das, was sie der Polizei mitteilen wollte, vorzubereiten, am besten schriftlich. Doch auf dem Rückweg ins Hotel wurde ihr bewußt, in was für einer heiklen Situation sie sich befand: Eine berühmte Autorin, eine ungeheuer erfolgreiche (wenn auch unverheiratete) Frau, wird zur verängstigten Zeugin des Mordes an einer Prostituierten, in deren Schrank sie sich versteckt hat. Ausgerechnet sie wollte der Polizei (und der Öffentlichkeit) weismachen, daß sie die Prostituierte »im Rahmen ihrer Recherchen« mit einem Freier beobachtet hatte – und das als Autorin, die bekanntlich den Standpunkt vertrat, konkrete Erfahrungen seien zweitrangig verglichen mit dem, was man sich ausdenken konnte!
Die Reaktionen darauf konnte Ruth sich nur zu lebhaft vorstellen. Endlich hatte sie die Demütigung gefunden, nach der sie gesucht hatte, nur würde sie darüber natürlich nicht schreiben.
Bis sie gebadet hatte und für das Abendessen mit Maarten und Sylvia und den Leuten vom Buchclub fertig angezogen war, hatte sie sich bereits ein paar Notizen zu dem gemacht, was sie der Polizei mitteilen wollte. Doch an ihrer Geistesabwesenheit beim Abendessen merkte sie deutlich, daß es ihr nicht gelungen war, sich einzureden, es sei ebenso korrekt, einen schriftlichen Augenzeugenbericht abzugeben, wie persönlich zur Polizei zu gehen. Dazu kam, daß sie sich irgendwie für Rooies Tochter verantwortlich fühlte; als Maarten und Sylvia sie in ihr Hotel zurückbrachten, wurde sie von Gewissensbissen gequält, denn inzwischen war ihr klargeworden, daß sie nicht vorhatte, überhaupt zur Polizei zu gehen.
Die Einzelheiten in Rooies Zimmer, aus der intimen Perspektive des Wandschranks gesehen, sollten Ruth sehr viel länger begleiten,
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