Witwe für ein Jahr (German Edition)
sie ihm weder von Wim noch von Rooie erzählen würde.)
Sie setzte sich auf und schrieb das, was Wim ihr aufgeschrieben hatte, mit der Hand in geordneter Form nieder – in Druckbuchstaben, um genau zu sein. Mit größter Sorgfalt malte sie die Wörter der fremden Sprache Buchstabe für Buchstabe ab, um ja keine Fehler zu machen. Die Polizei würde zweifellos zu der Erkenntnis gelangen, daß es einen Zeugen für den Mord an Rooie gab, aber Ruth war es lieber, wenn man nicht erfuhr, daß der Zeuge kein Holländer war. Möglicherweise würden die Ermittler annehmen, daß es sich um eine andere Prostituierte handelte, vielleicht eine von Rooies Nachbarinnen in der Bergstraat.
Ruth hatte ein unauffälliges, braunes Din-A4-Kuvert, in dem Maarten ihr den Terminplan für die Promotion-Tour ausgehändigt hatte. In dieses Kuvert steckte sie ihre Mitteilung an die Polizei und das Röhrchen mit der Polaroidemulsion, das sie mit Daumen und Zeigefinger behutsam an beiden Enden anfaßte; sie wußte, daß sie es seitlich berührt hatte, als sie es in Rooies Zimmer vom Teppich aufgehoben hatte, hoffte aber, daß die Fingerabdrücke des Mörders unversehrt waren.
Sie kannte keinen Polizisten mit Namen, ging aber davon aus, daß sie den Umschlag getrost an die Polizeiwache in der Warmoesstraat 48 adressieren konnte. Bevor sie ihn beschriftete, ging sie am nächsten Morgen als erstes in die Hotelhalle hinunter und ließ sich vom Portier die erforderlichen Briefmarken geben. Dann machte sie sich auf den Weg, um sich die Morgenzeitungen anzusehen.
Mindestens zwei Amsterdamer Zeitungen brachten den Mord als Aufmacher. Sie kaufte die mit einem Foto unter der Schlagzeile. Es war ein Foto von der Bergstraat bei Nacht, nicht besonders deutlich. Der Gehsteig unmittelbar vor Rooies Tür war von der Polizei abgeriegelt worden. Hinter der Absperrung sprach ein Mann, der wie ein Polizist in Zivil aussah, mit zwei Frauen, die wie Prostituierte aussahen.
Ruth erkannte den Polizisten wieder. Es war der stämmige, kräftig wirkende Mann mit den schmutzigen Laufschuhen und der Baseball-Aufwärmjacke. Auf dem Foto sah er frisch rasiert aus, aber Ruth bezweifelte nicht, daß es sich um denselben Mann handelte, der ihr eine Zeitlang durch De Wallen gefolgt war. Sowohl die Bergstraat als auch der Rotlichtbezirk gehörten eindeutig zu seinem Revier.
Die Schlagzeile lautete: Moord in de Bergstraat .
Um das zu verstehen, brauchte Ruth nicht Holländisch zu können. »Rooie« wurde zwar nicht bei ihrem Spitznamen genannt, wohl aber hieß es in dem Artikel, bei dem Mordopfer handle es sich um eine Dolores de Ruiter, 48 Jahre. Der einzige andere Name, der in dem Artikel – und auch in der Bildunterschrift – auftauchte, war der des Polizisten, Harry Hoekstra, der unterschiedlich betitelt wurde. Einmal wurde er als wijkagent bezeichnet, ein andermal als hoofdagent. Ruth beschloß, ihr Kuvert erst abzuschicken, nachdem sie Gelegenheit gehabt hatte, mit Maarten und Sylvia über den Zeitungsbericht zu reden.
Ruth nahm den Artikel mit zum Abendessen; es war das letzte gemeinsame Abendessen vor ihrer Abreise aus Amsterdam, und sie hatte sich genau überlegt, wie sie die Sprache ganz beiläufig auf die ermordete Prostituierte bringen wollte: »Geht es in diesem Bericht um das, was ich vermute?« wollte sie fragen. »Ich bin neulich durch diese Straße gegangen.«
Aber sie brauchte das Thema nicht selbst anzuschneiden. Maarten hatte den Bericht schon gelesen und ihn ausgeschnitten. »Hast du das gesehen? Weißt du, was das ist?« Als Ruth die Ahnungslose spielte, informierten Maarten und Sylvia sie über alle Einzelheiten.
Ruth hatte schon angenommen, daß die Leiche von der jungen Prostituierten entdeckt werden würde, die am Abend in Rooies Zimmer arbeitete – der dicken, jungen Frau, die Ruth in dem rückenfreien Lederoberteil im Fenster gesehen hatte. Überraschend an dem Artikel war für sie nur, daß Rooies Tochter mit keinem Wort erwähnt wurde.
»Was ist ein wijkagent ?« fragte sie Maarten.
»Ein Kontaktbeamter, der für ein bestimmtes Viertel zuständig ist«, erklärte er.
»Und was ist dann ein hoofdagent ?«
»Das ist sein Dienstgrad«, antwortete Maarten. »Er ist ein höherer Polizeibeamter, fast so etwas wie bei euch ein Sergeant.«
Am nächsten Tag bestieg Ruth Cole am späten Vormittag eine Maschine nach New York, nachdem sie sich auf der Fahrt zum Flughafen von ihrem Taxifahrer beim ersten Postamt, das auf der Strecke lag, kurz hatte
Weitere Kostenlose Bücher