Witwe für ein Jahr (German Edition)
als sie gebraucht hatte, um die für den Arbeitsplatz einer Prostituierten typische Atmosphäre einzufangen. Sie sollten ihr so gegenwärtig bleiben wie der draußen auf dem Fenstersims ihrer Kindheit zusammengerollte Maulwurfmann mit seiner sternförmigen, an die Glasscheibe gepreßten Nase. Die entsetzliche Angst vor den Kindergeschichten ihres Vaters hatte Ruth als Erwachsene eingeholt und konkrete Gestalt angenommen.
»Da ist er ja, dein unermüdlicher Verehrer«, sagte Maarten, als er Wim Jongbloed beim Taxistand am Kattengat stehen sah.
»Ach, du Schande«, sagte Ruth angeödet, dachte aber, daß sie noch nie im Leben so froh gewesen war, einen bestimmten Menschen zu sehen. Sie wußte, was sie der Polizei mitteilen wollte, nicht aber, wie sie es auf holländisch sagen sollte. Wim würde es wissen. Es kam lediglich darauf an, den närrischen Jungen nicht merken zu lassen, worum es ging. Als Ruth sich mit Küßchen von Maarten und Sylvia verabschiedete, bemerkte sie Sylvias fragenden Blick. »Nein«, flüsterte sie, »ich werde nicht mit ihm schlafen.«
Aber der verliebte Junge war mit anderen Erwartungen gekommen. Ein bißchen Marihuana hatte er auch mitgebracht. Glaubte er allen Ernstes, er könnte sie verführen, indem er sie erst high machte? Natürlich lief es umgekehrt: Sie machte ihn high. Danach war es ein leichtes, ihn zum Lachen zu bringen.
»Ihr habt vielleicht eine komische Sprache«, begann sie. »Sag mal was auf holländisch, irgend etwas.«
Alles, was er sagte, versuchte sie zu wiederholen – so einfach war das. Er fand ihre Aussprache zum Schreien.
»Was heißt: ›Das hat der Hund gefressen‹?« fragte sie. Sie ließ sich eine Reihe von Sätzen einfallen, bevor sie einen einflocht, der sie wirklich interessierte. »›Er hat eine Glatze, ein glattes Gesicht, einen eiförmigen Kopf und einen unscheinbaren Körper, und er ist nicht sehr groß.‹ Ich wette, das kannst du nicht schnell sagen«, sagte sie. Dann bat sie Wim, ihr den Satz aufzuschreiben, damit sie versuchen konnte, ihn nachzusprechen.
»Was heißt auf holländisch: ›Er hat keinen Sex‹?« fragte Ruth den jungen Mann. »Du weißt schon, so wie du«, fügte sie hinzu. Wim war so hinüber, daß er sogar darüber lachte. Aber er sagte es ihr. Und er schrieb ihr alles auf, worum sie ihn bat. Sie ermahnte ihn wiederholt, die einzelnen Buchstaben deutlich zu schreiben. Er ging noch immer davon aus, daß er später mit ihr schlafen würde. Aber zunächst einmal bekam Ruth, was sie wollte. Als sie ins Bad ging, um zu pinkeln, suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Lip gloss und entdeckte das Röhrchen mit der Emulsion für die Polaroidfotos, das sie offenbar aus Versehen vom Boden in Rooies Zimmer aufgehoben hatte. Bei der schwachen Beleuchtung hatte sie angenommen, das Ding sei aus ihrer Tasche gefallen, aber in Wirklichkeit stammte es aus der Aktentasche des Mörders. Es trug seine Fingerabdrücke – und ihre. Aber ihre spielten keine Rolle. Da es sich bei dem Röhrchen um das einzige Beweisstück aus Rooies Zimmer handelte, mußte man es der Polizei aushändigen. Als Ruth aus dem Bad kam, beschwatzte sie Wim noch einen Joint lang, den sie nur zum Schein mitrauchte. »›Das hat der Mörder fallen gelassen‹«, sagte sie dann. »Sag es auf holländisch. Und schreib es auf.«
Schließlich bewahrte ein Anruf von Allan sie davor, mit Wim zu schlafen oder ihm zu erlauben, noch einmal neben ihr zu onanieren. Wim merkte sofort, welche Bedeutung der Anrufer für Ruth hatte.
»Du fehlst mir mehr denn je«, sagte Ruth wahrheitsgetreu. »Ich hätte mit dir schlafen sollen, bevor ich abgereist bin. Ich möchte mit dir schlafen, sobald ich zurückkomme. Das ist übermorgen, wie du weißt. Es bleibt doch dabei, daß du mich vom Flughafen abholst, oder?«
Obwohl Wim high war, begriff er, was los war. Er sah sich in Ruths Hotelzimmer um, als hätte er sein halbes Leben hier irgendwo verlegt. Ruth, die auf dem Bett lag, sprach noch mit Allan, als Wim ging. Er hätte eine Szene machen können, aber er war kein schlimmer Junge, nur ein ganz gewöhnlicher. Seine einzige mürrische Reaktion bestand darin, daß er beim Hinausgehen ein Kondom aus der Tasche zog und es neben Ruth, die noch immer mit Allan sprach, aufs Bett fallen ließ. Es war eines dieser Kondome mit Geschmack – dieses schmeckte angeblich nach Banane. Ruth würde es Allan mitbringen. Ein kleines Souvenir aus dem Rotlichtbezirk, würde sie sagen. (Sie wußte schon jetzt, daß
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