Witwe für ein Jahr (German Edition)
absetzen lassen. Dort gab sie den Brief an Harry Hoekstra auf, der bei der Amsterdamer Polizei, im 2. Bezirk, fast ein Sergeant war. Ruth wäre überrascht gewesen, hätte sie das Motto des 2. Bezirks gekannt, das auf Latein in die Schlüsselringe der Polizeibeamten eingraviert war:
ERRARE
HUMANUM
EST
Irren ist wirklich menschlich, das wußte Ruth nur zu gut. Ihr Bericht und das Röhrchen mit der Emulsion sollten Harry Hoekstra viel mehr verraten, als Ruth hatte preisgeben wollen. Ihre sorgfältig auf holländisch geschriebene Mitteilung lautete:
1. De moordenaar liet dit vallen.
[Das hat der Mörder fallen lassen.]
2. Hij is kaal, met een glad gezicht, een eivormig hoofd en een onopvallend lichaam – niet erg groot.
[Er hat eine Glatze, ein glattes Gesicht, einen eiförmigen Kopf und einen unauffälligen Körper, und er ist nicht sehr groß.]
3. Hij spreekt Engels met, denk ik, een Duits accent.
[Er spricht Englisch mit einem, wie ich glaube, deutschen Akzent.]
4. Hij heeft geen seks. Hij neemt een foto van het lichaam nadat hij het lichaam heeft neergelegd.
[Er hat keinen Sex. Er macht ein Foto von der Leiche, nachdem er die Leiche in Positur gebracht hat.]
5. Hij loenst, zijn ogen bijna helemaal dichtgeknepen. Hij ziet eruit als een mol. Hij piept als hij ademhaalt. Astma misschien …
[Er schielt, seine Augen sind fast ganz zugekniffen. Er sieht aus wie ein Maulwurf. Er keucht. Vielleicht Asthma …]
6. Hij werkt voor SAS . De Scandinavische luchtvaartmaatschiappii? Hij heeft iets te maken met beveiliging.
[Er arbeitet für SAS . Die skandinavische Luftfahrtgesellschaft? Er hat was mit Sicherheitssystemen zu tun.]
Das war, zusammen mit der Polaroidemulsion, Ruths vollständiger Augenzeugenbericht. Vielleicht hätte es sie beunruhigt, wenn sie gehört hätte, was Harry Hoekstra etwa eine Woche später zu einem Kollegen auf der Polizeiwache in der Warmoesstraat sagte.
Harry war kein Kriminalbeamter; mehr als ein halbes Dutzend Kriminalbeamte suchten bereits nach Rooies Mörder. Harry Hoekstra war nur Streifenpolizist, aber der Rotlichtbezirk und die Gegend um die Bergstraat waren seit über dreißig Jahren sein Revier. Niemand in De Wallen kannte die Prostituierten und ihr Umfeld besser als er. Außerdem war der Augenzeugenbericht an ihn adressiert gewesen. Zunächst schien es, als dürfte man annehmen, daß es sich bei dem Zeugen um eine Person handelte, die Harry kannte – wahrscheinlich um eine Prostituierte.
Harry Hoekstra jedoch machte nie Annahmen. Er ging auf seine Art und Weise an die Dinge heran. Die Kriminalbeamten beschäftigten sich mit der Aufklärung des Mordes; die eher belanglose Angelegenheit mit dem Zeugen überließen sie Harry. Wenn er gefragt wurde, ob er bei der Suche nach dem Prostituiertenmörder irgendwelche Fortschritte mache, ob er schon ein Stück vorangekommen sei, antwortete er: »Der Mörder ist nicht meine Aufgabe. Ich suche den Zeugen.«
Verfolgt auf dem Heimwegvom Flying Food Circus
Als Schriftsteller hat man das Problem, daß in der Entstehungsphase eines Romans die Phantasie auch dann weitereilt, wenn man das Nachdenken abstellen will; sie läßt sich nicht einfach abschalten.
So kam es, daß Ruth Cole im Flugzeug von Amsterdam nach New York saß und unwillkürlich erste Sätze formulierte. »Vermutlich schulde ich meinem letzten schlimmen Freund wenigstens ein Wort des Dankes.« Oder: »Ungeachtet seines schrecklichen Verhaltens bin ich meinem letzten schlimmen Freund dankbar.« Und so weiter und so fort, während der Pilot etwas von der irischen Küste sagte.
Ruth wäre gern etwas länger über der Insel geblieben. Als sie nur noch den Atlantik unter sich hatte, stellte sie fest, daß ihre Phantasie sie in noch unwirtlichere Regionen entführte, sobald sie auch nur eine Minute lang nicht über ihr neues Buch nachdachte – nämlich zu der Frage, was mit Rooies Tochter geschehen würde. Das Mädchen, das seine Mutter verloren hatte, war womöglich erst sieben oder acht Jahre alt, vielleicht auch so alt wie Wim – älter nicht, sonst hätte Rooie sie nicht von der Schule abgeholt!
Wer würde sich jetzt um sie kümmern? Um die Tochter der Prostituierten … Diese Überlegung regte die Phantasie der Schriftstellerin an wie der Titel eines Romans, von dem sie wünschte, sie hätte ihn geschrieben.
Um sich von diesen zwanghaften Gedanken abzulenken, suchte Ruth in ihrem Bordcase nach Lektüre. Sie hatte die Bücher, die mit ihr von New York nach
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