Witwe für ein Jahr (German Edition)
Sagaponack und von dort aus nach Europa gereist waren, ganz vergessen. Von The Life of Graham Greene hatte sie (vorerst) genug gelesen, und Eddie O’Hares Sechzigmal unter den gegebenen Umständen noch einmal zu lesen, hätte sie nicht ertragen. (Allein die Onanierszenen hätten sie fix und fertig gemacht.) Und so fing Ruth noch einmal den kanadischen Kriminalroman an, den Eddie ihr gegeben hatte. Immerhin hatte er ihn ihr als »gute Flugzeuglektüre« empfohlen.
Ruth fand sich mit der ironischen Fügung ab, daß es sich um eine Mordgeschichte handelte; aber in ihrer augenblicklichen Situation hätte sie alles gelesen, nur um ihrer eigenen Phantasie zu entfliehen.
Ruth ärgerte sich erneut über das bewußt undeutliche Foto der unbekannten Autorin; daß sie ein Pseudonym verwendete, ärgerte sie ebenfalls. Ihr Künstlername, Alice Somerset, sagte Ruth gar nichts. Hätte freilich Ted Cole diesen Namen auf einem Schutzumschlag gelesen, hätte er sich das Buch – und vor allem das Foto der Autorin, so undeutlich es war – sehr genau angesehen.
Marion hieß mit Mädchennamen Somerset, und Alice war der Vorname ihrer Mutter. Mrs. Somerset war entschieden gegen die Ehe ihrer Tochter mit Ted Cole gewesen. Marion hatte es stets bedauert, daß ihre Mutter daraufhin den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte, aber daran war nichts mehr zu ändern. Und dann, noch vor dem tödlichen Unfall von Thomas und Timothy, war Marions Mutter gestorben und kurz darauf ihr Vater.
Aus der Kurzbiographie auf der Umschlagklappe erfuhr man lediglich, daß die Autorin Ende der fünfziger Jahre aus den Vereinigten Staaten nach Kanada ausgewandert war; dort fungierte sie während des Vietnamkriegs als Beraterin für junge Amerikaner, die sich nach Kanada absetzten, um der Einberufung zu entgehen. »Auch wenn Ms. Somerset das Handbuch für wehrdienstpflichtige Einwanderer nach Kanada wohl kaum als ihr erstes Buch bezeichnen würde«, hieß es im Klappentext, »hat sie Gerüchten zufolge doch einen erheblichen Beitrag zu diesem unschätzbaren Ratgeber geleistet.«
Ruth fand die ganze Angelegenheit abstoßend: den bescheidenen Klappentext, das heimlichtuerische Autorenfoto, das affektierte Pseudonym – von dem Titel ganz zu schweigen. Für sie klang Verfolgt auf dem Heimweg vom Flying Food Circus wie der Titel eines Country-Western-Songs, den sie garantiert nicht hören wollte.
Sie konnte weder wissen, daß der Flying Food Circus Ende der siebziger Jahre ein äußerst beliebtes Restaurant in Toronto gewesen war, noch daß ihre Mutter dort als Kellnerin gearbeitet hatte; in gewisser Weise bedeutete es für Marion, die damals Ende Fünfzig war, einen Triumph, die einzige nicht mehr junge Kellnerin in diesem Restaurant zu sein. (So gut war ihre Figur noch immer.)
Ruth konnte auch nicht wissen, daß ihre Mutter mit ihrem ersten Roman, der in den Vereinigten Staaten nicht verlegt worden war, in Kanada einen bescheidenen Erfolg hatte. Verfolgt auf dem Heimweg vom Flying Food Circus war auch in England erschienen; er war, wie auch die beiden folgenden Romane, in mehrere Sprachen übersetzt worden – mit großem Erfolg. (Vor allem in Deutschland und Frankreich hatten sich Marions Romane viel besser verkauft als die Originalausgaben.)
Doch Ruth mußte erst das ganze erste Kapitel von Verfolgt auf dem Heimweg vom Flying Food Circus lesen, ehe ihr klar wurde, daß Alice Somerset das Pseudonym von Marion Cole war, ihrer in bescheidenem Umfang erfolgreichen Mutter.
Das erste Kapitel
Eine Verkäuferin, die außerdem als Kellnerin jobbte, war in ihrer Wohnung in der Jarvis Street, südlich der Gerrard Street, tot aufgefunden worden. Sie konnte sich die Wohnung nur leisten, weil sie sie mit zwei anderen Verkäuferinnen teilte. Alle drei verkauften BH s im Eaton Centre.
Für die Tote hatte die Arbeit in diesem Kaufhaus einen Schritt nach oben bedeutet. Bis dahin hatte sie in einem Geschäft, das sich BH -Bar nannte, Wäsche verkauft. Sie sagte immer, die BH -Bar liege so weit draußen an der Avenue Road, daß sie sich schon auf halbem Weg zum Zoo befinde, was freilich übertrieben war. Einmal meinte sie ihren Mitbewohnerinnen gegenüber im Scherz, die Kunden der BH -Bar kämen häufiger aus dem Zoo als aus Toronto, was natürlich auch übertrieben war.
Ihre Mitbewohnerinnen berichteten, die junge Frau habe viel Sinn für Humor gehabt. Sie habe schwarz als Kellnerin gearbeitet, weil man, wie sie immer sagte, nicht viele Kerle kennenlernt, wenn man BH s
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