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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eingebildet hatte.
    Vom Restaurant aus war es zu weit, um zu Fuß in die Wohnung der Kellnerin zu gelangen. Wäre der Mörder ihr von der Arbeit nach Hause gefolgt, um festzustellen, wo sie wohnte, hätte er ihrem Taxi nachfahren müssen – mit dem eigenen Auto oder ebenfalls mit einem Taxi. (Die Mitbewohnerinnen sagten aus, die Kellnerin habe vom Flying Food Circus immer ein Taxi nach Hause genommen.)
    »Es muß eine ziemliche Schweinerei gewesen sein, ihr dieses T-Shirt überzuziehen«, sagte Cahill zu seiner Partnerin.
    »Deshalb die Dusche«, sagte Margaret. Sie mochte das Morddezernat immer weniger, was jedoch nicht an Cahills überflüssigen Bemerkungen lag. Cahill mochte sie recht gern. Sie wünschte nur, sie hätte Gelegenheit gehabt, mit der Verkäuferin zu reden.
    Sergeant McDermid interessierte sich immer mehr für das Opfer als für den Mörder, obwohl es ihr durchaus Genugtuung verschaffte, den Mörder zu fassen. Trotzdem hätte sie der Verkäuferin gern im Vorfeld davon abgeraten, den Betreffenden in ihre Wohnung zu lassen. Margaret wußte sehr wohl, daß diese Einstellung für einen Kriminalbeamten unpassend oder zumindest unproduktiv war. Vielleicht würde sie sich bei der Vermißtenstelle wohler fühlen, wo eine gewisse Hoffnung bestand, Personen zu finden, bevor sie zu Opfern wurden.
    Margaret McDermid gelangte zu der Erkenntnis, daß sie lieber nach potentiellen Opfern suchte als nach Mördern. Als sie das Cahill erzählte, ging er kaum darauf ein. »Vielleicht solltest du es wirklich bei der Vermißtenstelle versuchen, Margaret«, meinte er nur.
    Später im Wagen sagte Cahill, der Anblick des blutgetränkten geflügelten Hamburgers hätte ausgereicht, um ihn zum Vegetarier zu machen, aber Margaret ließ sich von dieser Bemerkung nicht ablenken. Sie stellte sich bereits vor, wie sie bei der Vermißtenstelle jemanden suchte, um ihn zu retten, statt ihn einzusperren. Vermutlich waren viele der vermißten Personen junge Frauen, und wahrscheinlich endeten mehr als nur ein paar von ihnen als Mordopfer.
    In Toronto wurden Frauen, die entführt wurden, selten innerhalb der Stadtgrenzen aufgefunden. Ihre Leichen tauchten für gewöhnlich irgendwo in der Nähe der 401 auf oder wurden – nachdem das Eis in der Georgian Bay aufgebrochen und der Schnee in den Wäldern geschmolzen war – an der Route 69 zwischen Parry Sound und Pointe au Baril oder bei Sudbury entdeckt. Manchmal machte ein Farmer auf einem Feld neben der Landstraße 11 in Brock eine Entdeckung. Wenn in den Staaten jemand entführt wurde, fand man den Betreffenden häufig in derselben Stadt – zum Beispiel in einer Abfalltonne oder einem gestohlenen Auto. Aber in Kanada gab es viel weites Land.
    Sicher waren einige der als vermißt gemeldeten jungen Frauen schlicht von zu Hause weggelaufen, überlegte Margaret McDermid weiter. Die aus den ländlichen Gegenden Ontarios landeten wahrscheinlich in Toronto, wo sie meistens leicht zu finden waren. (Nicht selten gingen sie auf den Strich.) Aber am meisten interessierten Margaret an der Arbeit bei der Vermißtenstelle die Kinder. Allerdings war sie nicht darauf gefaßt gewesen, daß es zu ihren Aufgaben gehören würde, sich ungeheure Mengen von Kinderfotos anzusehen. Und sie war auch nicht darauf gefaßt, daß die Fotos dieser vermißten Kinder sie so hartnäckig verfolgen würden.
    Fall um Fall wurden die Fotos abgeheftet, und während die verschollenen Kinder immer älter wurden, versuchte sich Margaret McDermid anhand der letzten Fotos auszumalen, wie sie inzwischen aussehen mochten. Sie stellte fest, daß man ein gutes Vorstellungsvermögen brauchte, um bei der Suche nach Vermißten Erfolg zu haben. Die Fotos der verschwundenen Kinder waren zwar wichtig, aber sie stellten nur einen Anhaltspunkt dar – Bilder von Kindern, die sich längst weiterentwickelt hatten. Margaret besaß, ebenso wie die Eltern dieser Kinder, eine ganz besondere, aber auch qualvolle Begabung: Sie konnte sich sehr lebhaft vorstellen, wie ein Sechsjähriger mit zehn oder zwölf aussehen mochte oder wie ein Teenager wohl mit zwanzig aussah; »qualvoll« war diese Gabe deshalb, weil es für die Eltern verschollener Kinder kaum etwas Schmerzlicheres gibt, als sich vorzustellen, wie ihr Kind älter oder gar erwachsen wird. Aber Eltern in dieser Situation können nicht anders. Und Sergeant McDermid stellte fest, daß sie auch nicht anders konnte.
    Zwar war sie dank dieser besonderen Fähigkeit erfolgreich in ihrem Job, aber

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