Witwe für ein Jahr (German Edition)
Eishockeyspiel, wahrscheinlich in ihrer Schule. William, mit einem Puck zwischen den Zähnen, überragt seine Mutter, Henry ist noch kleiner als sie. Beide tragen ihre Hockey-Montur, haben die Schlittschuhe jedoch gegen hohe Basketballschuhe vertauscht.
Margarets Kollegen in der Vermißtenstelle hatte das Foto damals, als der Fall noch bearbeitet wurde, gut gefallen, nicht nur weil die Mutter hübsch war, sondern weil die beiden Jungen in ihrer Hockey-Montur so kanadisch aussahen. Doch Margaret fand, daß beide etwas eindeutig Amerikanisches ausstrahlten, eine Mischung aus dreistem Selbstbewußtsein und ungebremstem Optimismus, so, als würden sie immer die richtige Fahrspur erwischen und könnten sich niemals irren.
Doch nur wenn Margaret McDermid nicht schlafen konnte oder diese Fotos zu oft und zu lange betrachtete, bereute sie es, von der Mordkommission zur Vermißtenstelle übergewechselt zu sein. Solange sie den Mörder der jungen Kellnerin in dem T-Shirt mit dem geflügelten Hamburger gesucht hatte, konnte sie ausgezeichnet schlafen. Doch weder der Mörder noch die vermißten amerikanischen Jungen wurden gefunden.
Wenn Margaret zufällig Michael Cahill über den Weg lief, der nach wie vor bei der Mordkommission war, erkundigten sie sich als Kollegen selbstverständlich nach der laufenden Arbeit. Und wenn es sich um Fälle handelte, die nirgendwohin führten – Fälle, denen man von Anfang an anmerkte, daß sie ungelöst bleiben würden –, brachten sie ihre Frustration auf die gleiche Weise zum Ausdruck: »Ich arbeite wieder an einem dieser Flying-Food-Circus-Fälle.«
Die Vermißtenstelle
Genau hier, am Ende des ersten Kapitels, hätte Ruth zu lesen aufhören können. Für sie bestand kein Zweifel, daß Alice Somerset Marion Cole war. Das mit den Fotos, die die kanadische Schriftstellerin beschrieben hatte, konnte kein Zufall sein – und ihre nachhaltige Wirkung auf die Beamtin von der Vermißtenstelle erst recht nicht.
Es überraschte Ruth weder, daß ihre Mutter sich nach wie vor intensiv mit den Fotos ihrer toten Söhne befaßte, noch daß sie sich offenbar zwanghaft mit der Frage beschäftigte, wie Thomas und Timothy als erwachsene Männer ausgesehen und was für ein Leben sie geführt hätten, so sie am Leben geblieben wären. Überraschend allerdings war für Ruth – nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, den dieser Existenzbeweis ihrer Mutter für sie darstellte –, daß Marion imstande gewesen war, indirekt über das zu schreiben, was ihr am meisten zu schaffen machte. Die schlichte Tatsache, daß ihre Mutter Schriftstellerin war, wenn auch keine gute, war für Ruth der größte Schock überhaupt.
Sie mußte weiterlesen. Natürlich wurden noch mehr Fotos beschrieben, und sie konnte sich an jedes einzelne erinnern. Der Roman wurde dem Genre des Kriminalromans nur insofern gerecht, als er letzten Endes einen einzelnen Fall, in dem es um vermißte Personen ging, bis zu seiner Lösung verfolgte: Zwei kleine Mädchen, zwei Schwestern, werden wohlbehalten aus den Händen ihres Entführers befreit, der sich weder als Sexteufel noch als Kinderschänder entpuppt (wie man zunächst befürchtet), sondern als Vater und geschiedener Ehemann, der sich seinen Kindern erschreckend entfremdet hat.
Die Kellnerin in dem T-Shirt mit dem geflügelten Hamburger bleibt eine Metapher für das ungelöste oder unlösbare Verbrechen – ebenso wie die verschollenen amerikanischen Jungen, deren Fotos Detective Sergeant McDermid auch am Ende des Romans noch verfolgen. In diesem Sinn geht Verfolgt auf dem Heimweg vom Flying Food Circus über das Genre des Kriminalromans hinaus; die Vermißtenstelle wird zum Symbol für einen psychischen Zustand. Sie charakterisiert den permanenten Geisteszustand der melancholischen Hauptfigur.
Noch bevor Ruth den ersten Roman ihrer Mutter zu Ende gelesen hatte, wollte sie unbedingt mit Eddie sprechen, da sie (zu Recht) annahm, daß er etwas über Marions schriftstellerischen Werdegang wußte. Bestimmt hatte Alice Somerset mehr als dieses eine Buch geschrieben. Verfolgt auf dem Heimweg vom Flying Food Circus war 1984 erschienen; es war kein dicker Roman. Vermutlich hatte ihre Mutter in den Jahren bis 1990 noch ein paar andere Romane geschrieben und veröffentlicht.
Wenig später sollte Ruth von Eddie erfahren, daß es tatsächlich noch zwei Romane gab, in denen es jeweils um Einzelfälle aus dem Arbeitsbereich der Vermißtenstelle ging. Titel waren nicht gerade die Stärke
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