Witwe für ein Jahr (German Edition)
konnte sie in ihrem Arbeitszimmer im oberen Teil der Scheune riechen (oder sonstwie entdecken) – im umgebauten Squashcourt, den sie sich als Arbeitszimmer ausgesucht hatte? Leiter und Falltür waren durch eine normale Treppe und eine normale Tür ersetzt worden. Ruths neues Arbeitszimmer hatte eine Fußbodenheizung; etwa dort, wo der tote Punkt an der Stirnwand des Squashcourts gewesen war, befand sich ein Fenster. Wenn sie an ihrer altmodischen Schreibmaschine saß oder, was häufiger vorkam, die langen Seiten der gelben, linierten Blöcke mit der Hand beschrieb, hörte sie nicht ein einziges Mal das scheppernde Geräusch, das der Squashball auf dem verräterischen Tin zu machen pflegte. Und das T im ehemaligen Court, das zu erkämpfen und zu verteidigen sie gelernt hatte (als hinge ihr Leben davon ab), war jetzt mit einem Teppich bedeckt. Ruth konnte es nicht mehr sehen.
Allerdings konnte sie von Zeit zu Zeit die Auspuffgase der Autos riechen, die nach wie vor unten in der alten Scheune abgestellt wurden. Aber dieser Geruch störte sie nicht.
»Du bist schon ein komischer Vogel«, sagte Hannah wieder einmal zu ihr. »Ich würde eine Gänsehaut kriegen, wenn ich hier arbeiten müßte!«
Doch zumindest bis Graham alt genug war, um in die Vorschule zu gehen, war das Haus in Sagaponack für Ruth ideal; es war auch für Allan ideal und für Graham ebenfalls. Den Sommer wollten sie jeweils in Vermont verbringen – die Monate, in denen die Hamptons überlaufen waren und Allan die lange Fahrt nach New York und zurück (sie dauert vier Stunden) nicht soviel ausmachte. Als es soweit war, hatte Ruth Bedenken, weil Allan die lange Strecke oft nachts fuhr, wo man auf den Straßen mit Wildwechsel und betrunkenen Autofahrern rechnen mußte, aber sie war glücklich verheiratet. Und zum ersten Mal fand sie ihr Leben herrlich.
Wie jede junge Mutter, vor allem wie jede ältere junge Mutter, sorgte sich Ruth um ihr Baby. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, wie sehr sie es lieben würde. Aber Graham war ein gesundes Kind. Die Sorgen, die Ruth sich um ihn machte, entsprangen einzig und allein ihrer Phantasie.
Nachts zum Beispiel, wenn sie meinte, Grahams Atem höre sich seltsam an oder anders als sonst – oder schlimmer noch, wenn sie ihn gar nicht atmen hörte –, eilte sie aus dem Elternschlafzimmer ins Kinderzimmer, das früher ihr Zimmer gewesen war. Dort rollte sie sich oft auf dem Teppich neben dem Kinderbettchen zusammen. Für solche Gelegenheiten lagen in Grahams Schrank ein Kissen und eine Decke bereit. Nicht selten entdeckte Allan sie am Morgen auf dem Boden des Kinderzimmers, wo sie tief und fest neben ihrem schlummernden Kind schlief.
Und als Graham nicht mehr in sein Gitterbettchen paßte und alt genug war, um allein ins Bett und wieder herauszuklettern, lag Ruth oft in ihrem Bett und hörte seine Füßchen über den Boden im Bad tappen. Genauso war Ruth als Kind durch das Bad zum Bett ihrer Mutter getappt … Nein, öfter zum Bett ihres Vaters, außer in jener denkwürdigen Nacht, in der sie ihre Mutter mit Eddie überrascht hatte.
Das ist ein Schluß, wenn es überhaupt einen gibt, dachte die Schriftstellerin. Der Kreis hatte sich geschlossen. Hier war ein Ende und zugleich ein Anfang. (Eddie war Grahams Pate, Hannah seine Patin – eine verantwortungsvollere und zuverlässigere Patin, als man ihr zugetraut hätte.)
In den Nächten, in denen Ruth im Kinderzimmer zusammengerollt auf dem Boden lag und dem Atem ihres kleinen Sohnes lauschte, war sie dankbar für ihr Glück. Rooies Mörder hatte das Geräusch, wie wenn jemand versucht, kein Geräusch zu machen, eindeutig gehört, aber er hatte sie nicht entdeckt. Ruth mußte oft an ihn denken. Sie fragte sich nicht nur, wer dieser Mann war und ob er gewohnheitsmäßig Prostituierte umbrachte; sie fragte sich auch, ob er ihren Roman gelesen hatte, denn sie hatte gesehen, wie er Rooies Exemplar von Nichts für Kinder an sich genommen hatte. Aber vielleicht hatte er das Buch nur haben wollen, damit Rooies Foto nicht beschädigt wurde.
In den Nächten auf dem Teppich neben Grahams Gitterbettchen (und später seinem Bett) ließ Ruth ihren Blick durch das vom matten Schein des Nachtlichts schwach erleuchtete Kinderzimmer wandern. Sie sah den vertrauten Spalt zwischen den Vorhängen; durch den schmalen Schlitz war ein schwarzer Streifen Nachthimmel zu sehen, manchmal sternenübersät, manchmal nicht.
Meist war es eine Unregelmäßigkeit in Grahams Atmung, die
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