Witwe für ein Jahr (German Edition)
einen Punkt kommen, wo sie ihr Leben ändern wollen, wo sie ein neues Leben anfangen wollen?«
»Tja … dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Hannah. »Kann schon sein. Aber nur, weil was mit ihnen passiert ist.«
Ruths erste Hochzeit
Allan Albright und Ruth Cole heirateten an dem langen Thanksgiving-Wochenende, das sie in Ruths Haus in Vermont verbrachten. Hannah war, zusammen mit einem schlimmen Freund, das ganze Wochenende über Gast im Haus, desgleichen Eddie O’Hare, der als Brautführer fungierte. (Hannah war Ruths Brautjungfer.) Mit Mintys Hilfe hatte Eddie jene George-Eliot-Passage über die Ehe ausfindig gemacht – Ruth hatte sich gewünscht, daß Hannah sie bei der Hochzeitszeremonie vorlas. Natürlich konnte Minty es sich nicht verkneifen, seinem Sohn im Anschluß an seine erfolgreiche Suche einen kleinen Vortrag zu halten.
»Weißt du, Edward«, erklärte er ihm, »eine solche Passage, bei der es sich, sowohl dem Inhalt als auch dem Ton nach, um eine Art Plädoyer handelt, steht mit Sicherheit am Beginn eines Kapitels oder, noch wahrscheinlicher, am Ende. Und da sie auf etwas Tiefergreifendes, Endgültiges hindeutet, wird man sie vermutlich eher gegen Ende des Buches finden als am Anfang.«
»Verstehe«, sagte Eddie. »Und aus welchem Buch stammt sie?«
»Das verrät uns die leise Ironie«, dozierte Minty. »Die und der bittersüße Unterton. Es ist wie ein Hirtenbrief, aber mehr als das.«
»Jetzt sag schon, aus welchem Roman«, drängte Eddie seinen Vater.
»Na, Adam Bede natürlich, Edward«, verkündete der alte Englischlehrer. »Sehr passend für die Hochzeit deiner Bekannten, da sie im November stattfindet; im gleichen Monat haben auch Adam Bede und Dinah geheiratet – ›an einem rauhreifüberzogenen Morgen im späten November‹«, zitierte Minty aus dem Gedächtnis. »Das ist aus dem ersten Satz des letzten Kapitels, wenn man den Epilog nicht mitrechnet«, fügte der alte Englischlehrer hinzu.
Eddie war wie erschlagen, fand aber die von Ruth gewünschte Passage.
Hannah las das George-Eliot-Zitat bei Ruths Hochzeit ohne große Überzeugung vor, aber für Ruth waren die Worte voll lebendiger Bedeutung.
»Gibt es etwas Schöneres für zwei Menschen als das Gefühl, ein ganzes Leben lang miteinander verbunden zu sein, einander in aller Mühsal Kraft zu spenden, sich gegenseitig zu stützen in allem Kummer, einander zu helfen in allem Schmerz, vereint zu sein in schweigender, unaussprechlicher Erinnerung im Augenblick des endgültigen Abschiednehmens?«
Ja, wirklich, gibt es etwas Schöneres? fragte sich Ruth. Sie hatte gerade erst angefangen, Allan zu lieben; und sie glaubte, daß sie ihn schon jetzt mehr liebte, als sie je einen Menschen geliebt hatte, mit Ausnahme ihres Vaters.
Die zivile Trauung, die ein einheimischer Friedensrichter vornahm, fand in Ruths Lieblingsbuchhandlung in Manchester, Vermont, statt. Die Inhaber der Buchhandlung, ein Ehepaar, mit dem Ruth eine alte Freundschaft verband, waren so liebenswürdig, ihr Geschäft an einem der lebhaftesten Einkaufswochenenden des Jahres für ein paar Stunden zu schließen. Nach der Hochzeit öffnete die Buchhandlung ihre Türen für den üblichen Geschäftsbetrieb, aber offenbar wollten noch mehr Buchkäufer bedient werden als erwartet. Unter ihnen befanden sich auch einige Schaulustige. Als die frischgebackene Mrs. Albright (auch wenn Ruth Cole sich nie so nannte) an Allans Arm die Buchhandlung verließ, wandte sie den Blick bewußt von den Umstehenden ab.
»Falls irgendwelche Journalisten da sind, kümmere ich mich um sie«, hatte Hannah ihr zugeflüstert.
Eddie hielt natürlich Ausschau nach Marion.
»Ist sie da? Siehst du sie?« fragte Ruth, aber Eddie schüttelte nur den Kopf.
Ruth hielt noch nach jemand anderem Ausschau. Sie rechnete halbwegs damit, daß Allans Exfrau auftauchen würde, auch wenn Allan über ihre Befürchtungen gespöttelt hatte. Das Thema Kinder war ein erbitterter Streitpunkt zwischen ihm und seiner ersten Frau gewesen, aber die Entscheidung, sich scheiden zu lassen, hatten sie gemeinsam getroffen. Und es sei ihre Art, andere Leute zu schikanieren, hatte Allan behauptet.
Da am Thanksgiving-Wochenende in der Stadt viel Betrieb herrschte, hatten sie in einiger Entfernung von der Buchhandlung parken müssen. Als sie auf dem Weg zu ihrem Wagen an einer Pizzeria und einem Kerzengeschäft vorbeikamen, merkte Ruth, daß jemand ihrer kleinen Hochzeitsgesellschaft folgte – und das, obwohl Hannahs
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