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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nahm Vratna von ihrem mitfühlenden Freier ein Darlehen an. Der Mann bezahlte ihren Anteil an der Miete für ein Fensterzimmer, das sie sich mit zwei anderen Mädchen aus Osteuropa teilte; so wurde sie eine Fensterprostituierte. Das »Darlehen«, das Vratna unmöglich hätte zurückzahlen können, hatte zur Folge, daß ihr »guter Geist« der Freier mit den meisten Privilegien wurde. Er suchte sie oft auf, und natürlich verlangte sie kein Geld von ihm; tatsächlich war er ihr Zuhälter geworden, ohne daß es ihr überhaupt bewußt war. Und es dauerte nicht lange, da gab sie ihm die Hälfte ihrer Einnahmen von den anderen Freiern.
    Er hieß Paul de Vries und war ein leitender Angestellter im Ruhestand, der aus Spaß und zum Zeitvertreib angefangen hatte, sich als Zuhälter für diese illegal in Amsterdam arbeitenden osteuropäischen Mädchen zu betätigen. Für ihn war es nichts weiter als ein amüsantes Spiel: junge Mädchen zu ficken, erst für Geld, später aber umsonst. Und am Ende gaben sie ihm natürlich Geld – und er fickte sie immer noch!
    An einem Weihnachtsmorgen – einem der wenigen in den letzten Jahren, an dem Harry sich nicht freigenommen hatte – fuhr er mit dem Fahrrad durch den frischen Schnee in De Wallen; er wollte nachschauen, ob irgendeine Prostituierte arbeitete. Ähnlich wie Ruth Cole hatte er die Vorstellung, daß unter einer frischgefallenen Schneedecke an einem Weihnachtsmorgen selbst das Rotlichtviertel sauber und unverdorben aussehen könnte. Aber Harry war, untypisch für ihn, noch etwas sentimentaler gewesen: Für die wenigen Mädchen, die am Weihnachtsmorgen vielleicht doch in ihren Fenstern arbeiteten, hatte er ein paar schlichte Geschenke gekauft. Nichts Ausgefallenes oder Teures, nur ein paar Pralinen, ein kleines Früchtebrot und ein halbes Dutzend Christbaumanhänger.
    Harry wußte, daß Vratna religiös war, zumindest hatte sie ihm das gesagt; und für sie hatte er – nur für den Fall, daß sie arbeitete – ein etwas wertvolleres Geschenk dabei, das er in einem Geschäft erstanden hatte, das Schmuck aus zweiter Hand verkaufte. Trotzdem hatte er nur zehn Gulden dafür bezahlt; es war ein lothringisches Kreuz, von dem die Verkäuferin behauptete, diese Kreuze seien bei jungen Leuten mit unkonventionellem Geschmack sehr beliebt. (Das Kreuz hatte zwei Querbalken, der obere kürzer als der untere.)
    Es hatte heftig geschneit, und in De Wallen waren kaum Fußspuren zu sehen; ein paar Fußabdrücke umgaben das Einmannpissoir neben der alten Kirche, aber der Schnee in Vratnas schmaler Straße, dem Oudekennissteeg, war völlig unberührt. Harry war erleichtert, als er feststellte, daß Vratna nicht arbeitete; ihr Fenster war dunkel, der Vorhang zugezogen, die rote Lampe aus. Schon wollte er mit seinem Rucksack mit den wenig originellen Weihnachtsgeschenken weiterfahren, als er bemerkte, daß die Tür zu Vratnas Fensterzimmer nicht ganz geschlossen war. Es hatte etwas Schnee hineingeweht, so daß Harry die Tür nicht einfach zuziehen konnte.
    Er hatte nicht vorgehabt, einen Blick in das Zimmer zu werfen, mußte die Tür aber erst weiter aufmachen, bevor er sie schließen konnte. Er wischte mit dem Fuß den Schnee von der Schwelle – es war nicht gerade das ideale Wetter für seine Laufschuhe –, als er die junge Frau am Haken der Deckenlampe hängen sah. Da die Tür zur Straße offenstand, fegte der Wind herein und brachte den baumelnden Körper zum Schwingen. Harry trat ins Zimmer und schloß die Tür, um den anwehenden Schnee auszusperren.
    Sie hatte sich an diesem Morgen erhängt, wahrscheinlich kurz nach Tagesanbruch. Sie war dreiundzwanzig. Sie hatte ihre alten Sachen angezogen, mit denen sie in den Westen gekommen war, um als Kellnerin zu arbeiten. Da sie nicht wie eine Prostituierte gekleidet (sprich: ent kleidet) war, hatte Harry sie nicht sofort erkannt. Vratna hatte auch ihren ganzen Schmuck angelegt – das wenige, was sie besaß. Harry hätte es sich sparen können, dem Mädchen noch ein Kreuz zu schenken, denn um ihren Hals hingen ein halbes Dutzend Kreuze und etwa ebenso viele Kruzifixe.
    Harry rührte weder sie noch sonst etwas im Raum an. Doch er registrierte die Scheuermale an ihrem Hals und den abgebröckelten Deckenputz, und er schloß daraus, daß sie nicht sofort erstickt war, sondern noch eine Weile um sich geschlagen hatte. Ein Musiker hatte die Wohnung über Vratnas Fensterzimmer gemietet. Im Normalfall hätte er sie vielleicht gehört, zumindest den

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