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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Ruth bewog, vom Boden aufzustehen und ihren schlafenden Sohn zu betrachten. Dann spähte sie durch den Vorhangspalt, um festzustellen, ob sich der Maulwurfmann dort befand, wo sie ihn halb vermutete: schlafend zusammengerollt auf dem Fenstersims, wobei er einen Teil der rosafarbenen Tentakel seiner sternförmigen Nase an die Scheibe drückte.
    Natürlich war der Maulwurfmann nie da; und doch schreckte Ruth manchmal aus dem Schlaf hoch, weil sie überzeugt war, ihn keuchen zu hören. (Es war nur Graham, der im Schlaf eigenartige Geräusche von sich gab.)
    Dann schlief Ruth wieder ein – oft mit dem Gedanken, warum ihre Mutter jetzt, nachdem ihr Vater tot war, nicht auftauchte. Wollte sie das Baby denn nicht sehen? überlegte Ruth. Von mir ganz zu schweigen!
    Diese Frage machte sie so wütend, daß sie sich bemühte, nicht weiter darüber nachzudenken.
    Da Ruth häufig mit Graham allein in dem Haus in Sagaponack war – zumindest in den Nächten, in denen Allan in der Stadt blieb –, gab es Zeiten, in denen das Haus eigenartige Geräusche machte. Da war das an Die-Maus-die-in-der-Wand-krabbelt erinnernde Geräusch und das an Ein-Geräusch-wie-wenn-einer-versucht-kein-Geräusch-zu-machen erinnernde Geräusch und dazu die ganze Palette dazwischen liegender Geräusche – das an die aufgehende Tür-im-Boden erinnernde Geräusch und das ausbleibende Geräusch, das der Maulwurfmann machte, wenn er die Luft anhielt.
    Ruth wußte, daß er da draußen war, irgendwo; er wartete noch immer auf sie. In den Augen des Maulwurfmanns war sie noch immer ein kleines Mädchen. Wenn sie versuchte einzuschlafen, konnte sie seine kleinen, verkümmerten Augen sehen, die pelzigen Mulden in seinem pelzigen Gesicht.
    Auch Ruths neuer Roman wartete auf sie. Eines Tages würde sie keine junge Mutter mehr sein, und dann würde sie wieder schreiben. Bisher hatte sie erst rund hundert Seiten von Mein letzter schlimmer Freund zu Papier gebracht. Noch war sie nicht bis zu der Szene gekommen, in der der Freund die Schriftstellerin dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen. Ruth arbeitete noch darauf hin. Auch diese Szene wartete auf sie.

III

    Herbst 1995

Der Beamte

    Sergeant Harry Hoekstra, ehemaliger hoofdagent, drückte sich davor, seinen Schreibtisch auszuräumen. Von seinem Büro im ersten Stock der Polizeiwache des 2. Bezirks aus sah man auf die Warmoesstraat. Statt seinen Schreibtisch in Angriff zu nehmen (der noch nie ausgeräumt worden war), ließ sich Harry von den Veränderungen des Straßenbildes ablenken – denn die Warmoesstraat hatte, wie der übrige Rotlichtbezirk, im Lauf der Jahre einiges an Veränderungen erlebt. Sergeant Hoekstra, der sich auf seine vorzeitige Pensionierung freute, wußte, daß ihm als Streifenpolizist nur sehr wenig entgangen war.
    Gegenüber der Polizeiwache befand sich früher das Blumengeschäft Jemi, das inzwischen an die Ecke Enge Kerksteeg umgezogen war. Nach wie vor in Harrys Sichtweite befanden sich ein Lokal, das sich La Paella nannte, und ein argentinisches Restaurant namens Tango, und anstelle des Blumengeschäfts gab es jetzt Sanny’s Bar. Hätte Harry so viel im voraus gewußt, wie einige seiner Kollegen ihm unterstellten, hätte er vielleicht vorhersehen können, daß Sanny’s Bar knapp ein Jahr nach seiner Pensionierung einem Café mit dem unglücklich gewählten Namen Café Pimpelmée Platz machen würde. Doch selbst ein guter Polizist besaß nicht genug hellseherische Fähigkeiten, um derart detaillierte Prognosen stellen zu können. Wie viele Männer, die sich für einen vorzeitigen Ruhestand entscheiden, war Harry Hoekstra der Meinung, daß die meisten Veränderungen in seinem Tätigkeitsbereich keine Veränderungen zum Besseren waren.
    1966 war zum erstenmal Haschisch in deutlich größeren Mengen nach Amsterdam gekommen. In den siebziger Jahren kam das Heroin; anfangs beherrschten die Chinesen den Heroinhandel, doch nach dem Ende des Vietnamkriegs verloren sie ihn an das Goldene Dreieck in Südostasien. Viele drogensüchtige Prostituierte fungierten als Heroinkuriere.
    Heutzutage waren über sechzig Prozent der Drogensüchtigen der Gesundheitsbehörde namentlich bekannt, und in Bangkok waren holländische Polizeibeamte stationiert. Aber mehr als siebzig Prozent der Prostituierten im Rotlichtbezirk waren Ausländerinnen ohne Aufenthaltsgenehmigung; diese »Illegalen« im Auge zu behalten war praktisch unmöglich.
    Irgendwann kam dann

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