Witwe für ein Jahr (German Edition)
vorbei zu ihrem Bett marschierte.
»Hier drin ist es nicht so kalt«, bemerkte das Kind. »In unserem Zimmer ist es viel kälter. Daddy ist eiskalt.«
»Allan ist tot«, flüsterte Ruth Conchita zu.
Dann, allein im Wohnzimmer der Suite, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, um wieder ins Schlafzimmer zu gehen. Sie schloß das Fenster, bevor sie ins Bad ging, wo sie sich eilig Gesicht und Hände wusch und die Zähne putzte; für die Haare war jetzt keine Zeit. Dann zog sie sich hastig an, ohne Allan auch nur ein einziges Mal anzusehen oder noch einmal zu berühren. Ruth wollte sein Gesicht nicht sehen. Sie wollte ihn für den Rest ihres Lebens so vor Augen haben können, wie er ausgesehen hatte, als er noch lebte. Es war schon schlimm genug, daß sie die Erinnerung an seine unnatürliche Kälte mit ins Grab nehmen würde.
Es war noch vor sechs, als sie Hannah anrief.
»Wehe, es ist kein Freund, der da anruft«, sagte Hannah, als sie den Hörer abnahm.
»Wer zum Teufel ist das?« hörte Ruth den Ex-Hockeytorwart fragen.
»Ich bin es. Allan ist tot. Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Ruth.
»O Baby, Baby, ich komme sofort!« sagte Hannah.
»Wer zum Teufel ist das?« fragte der ehemalige Hockeystar noch einmal.
»Hau ab und such dir einen anderen Puck!« hörte Ruth Hannah sagen. »Es geht dich einen verdammten Scheißdreck an, wer das ist …«
Bis Hannah im Stanhope eintraf, hatte Ruth bereits Eddie im New York Athletic Club angerufen. Er und Hannah kümmerten sich um alles. Graham war zum Glück in Conchitas Bett eingeschlafen, so daß Ruth nicht mit ihm zu reden brauchte; er wachte erst nach acht Uhr auf, und bis dahin war Allans Leichnam aus dem Hotel abtransportiert worden.
Hannah, die mit Graham zum Frühstück hinunterging, bewies einen erstaunlichen Einfallsreichtum bei der Beantwortung seiner Fragen nach seinem Vater. Es war noch zu früh, als daß Allan schon im Himmel hätte sein können, hatte Ruth entschieden; sie meinte, es sei überhaupt zu früh, um über den Himmel zu sprechen, von dem später noch oft die Rede sein sollte. Hannah hielt sich an konkretere Unwahrheiten: »Dein Daddy ist ins Büro gefahren, Graham.« Und: »Vielleicht muß dein Daddy auf Reisen gehen.«
»Wohin denn?« fragte Graham.
Conchita war am Boden zerstört. Ruth war wie betäubt. Eddie erbot sich, sie alle nach Sagaponack zu fahren, aber Ted Cole hatte seiner Tochter nicht umsonst das Fahren beigebracht. Ruth wußte, daß sie nach Manhattan oder von dort nach Long Island fahren konnte, wann immer es sein mußte. Ihr genügte es, daß Eddie und Hannah ihr erspart hatten, sich um Allans Leiche zu kümmern.
»Ich kann selbst fahren«, erklärte Ruth den beiden. »Egal, was passiert, fahren kann ich.« Aber sie hätte es nicht ertragen, in Allans Sachen nach dem Autoschlüssel zu suchen. Das übernahm Eddie. Und Hannah packte Allans Sachen zusammen.
Auf der Rückfahrt saß Hannah mit Graham und Conchita auf dem Rücksitz. Sie war dafür zuständig, sich mit Graham zu unterhalten; das war ihre Rolle. Eddie saß auf dem Beifahrersitz. Welche Rolle er spielte, war allen unklar, auch ihm selbst; er widmete sich ganz der Betrachtung von Ruths Profil. Ruth wandte den Blick nicht ein einziges Mal von der Straße ab, außer um in den Seiten- oder den Rückspiegel zu schauen.
Armer Allan, es mußte ein akuter Herzstillstand gewesen sein, dachte Eddie. Damit hatte er recht. Interessanter war das, womit er nicht recht hatte: Er bildete sich nämlich ein, sich in Ruth verliebt zu haben, nur weil er sich in ihr kummervolles Profil vertieft hatte; dabei war ihm nicht klar, wie sehr sie ihn in diesem Augenblick an ihre unglückliche Mutter erinnerte.
Armer Eddie! Ihm war etwas äußerst Ungutes widerfahren: Er wiegte sich in der verwirrenden Illusion, daß er jetzt in die Tochter der einzigen Frau verliebt war, die er je geliebt hatte! Aber wer kann schon unterscheiden, ob er sich verliebt hat oder es sich nur einbildet? Selbst wenn man sich wirklich verliebt, ist das eine Frage der Einbildungskraft.
»Wo ist Daddy jetzt?« fragte Graham. »Ist er noch immer im Büro?«
»Ich glaube, er hat einen Termin beim Arzt«, erklärte ihm Hannah. »Ich glaube, er ist zum Arzt gegangen, weil er sich nicht wohl gefühlt hat.«
»Ist er noch immer kalt?« fragte der Junge.
»Schon möglich«, antwortete Hannah. »Der Arzt kann bestimmt feststellen, was ihm fehlt.«
Ruths Haar blieb ungekämmt, vom Schlafen verdrückt, und ihr
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