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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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blasses Gesicht war ungeschminkt. Ihre Lippen waren trocken, die Krähenfüße in den Augenwinkeln fielen Eddie deutlicher auf als jemals zuvor. Marion hatte auch Krähenfüße gehabt, aber Eddie hatte sie vorübergehend aus dem Blick verloren. Er war ganz gebannt von Ruths Gesicht, das tiefe Trauer ausstrahlte.
    Ruth erlebte mit vierzig die erste Taubheit des Trauerns. Marion hatte mit neununddreißig, als Eddie sie kennengelernt hatte, schon fünf Jahre lang getrauert; ihr Gesicht, dem das ihrer Tochter jetzt so sehr glich, spiegelte eine nahezu unendliche Traurigkeit wider.
    Eddie hatte sich als Sechzehnjähriger in Marions Traurigkeit verliebt, die ein beständigerer Teil ihrer selbst zu sein schien als ihre Schönheit. Doch an Schönheit erinnert man sich auch noch, nachdem sie verblaßt ist; und in Ruths Gesicht sah Eddie eine verblaßte Schönheit gespiegelt. Auch daran läßt sich ermessen, wie sehr er Marion liebte.
    Aber Eddie war nicht bewußt, daß er Marion noch immer liebte. Er glaubte allen Ernstes, er habe sich in Ruth verliebt.
    Was zum Teufel ist nur los mit Eddie? überlegte Ruth. Wenn er nicht aufhört, mich anzustarren, komme ich noch von der Straße ab!
    Auch Hannah hatte bemerkt, daß Eddie Ruth anstarrte. Was zum Teufel ist nur los mit Eddie? überlegte Hannah. Seit wann interessierte sich dieser Blödmann für eine jüngere Frau?

Mrs. Cole

    Sie war seit einem Jahr Witwe«, hatte Ruth Cole geschrieben. (Nur vier Jahre bevor sie selbst Witwe wurde!) Und ein Jahr nach Allans Tod hatte sie, genau so, wie sie es von ihrer fiktiven Witwe behauptet hatte, noch immer Mühe, »ihre Erinnerungen an die Vergangenheit im Zaum zu halten, wie das jeder Witwe abverlangt wird«.
    Wie kam es, daß ich so gut Bescheid wußte? fragte sie sich jetzt, denn obwohl sie stets behauptet hatte, daß sich ein guter Schriftsteller alles vorstellen kann (und zwar wahrheitsgemäß), und obwohl sie oft argumentiert hatte, daß das, was man am eigenen Leib erfahren hat, überschätzt wird, staunte sie selbst, wie zutreffend sie sich das Witwendasein vorgestellt hatte.
    Ein volles Jahr nach Allans Tod neigte Ruth, genau wie ihre fiktive Witwe, noch immer dazu, »sich noch ebenso leicht von den Fluten der Erinnerung mitreißen zu lassen wie an jenem Morgen, an dem sie beim Aufwachen feststellte, daß ihr Mann tot neben ihr lag«.
    Wo war die erzürnte alte Witwe, die über Ruth hergefallen war, weil sie angeblich unzutreffend über das Witwendasein geschrieben hatte?
    Wo war die Furie, die sich als Witwe für den Rest ihres Lebens bezeichnet hatte? Rückblickend war Ruth enttäuscht, daß sie bei Allans Trauerfeier nicht aufgetaucht war. Jetzt, wo sie selbst Witwe war, wollte sie die alte Hexe unbedingt sehen, und sei es nur, um ihr ins Gesicht schreien zu können, daß alles, was sie über das Witwendasein geschrieben hatte, stimmte!
    Dieses böse Weib hatte versucht, ihr mit ihren haßerfüllten Drohungen den Hochzeitstag zu verderben, diese alte Vettel, die sich so schamlos gehenließ … Wo war sie jetzt? »Wahrscheinlich ist sie längst tot«, hatte Hannah gemeint. Wenn ja, fühlte Ruth sich betrogen; jetzt, wo ihr nach allgemeiner Auffassung das Recht zustand, sich zu diesem Thema zu äußern, hätte Ruth der alten Hexe gern gehörig die Meinung gesagt.
    Hatte die alte Schnepfe sich Ruth gegenüber nicht mit ihrer erhabenen Liebe zu ihrem Mann gebrüstet? Allein die Vorstellung, daß ein Mensch zu einem anderen sagt: »Du weißt nicht, was Trauer ist« oder: »Du weißt nicht, was Liebe ist«, fand Ruth unerhört.
    Dieser unverhoffte Zorn auf die alte Witwe ohne Namen hatte Ruth in ihrem ersten Jahr als Witwe mit nie versiegender Kraft versorgt. Im selben Jahr, ebenso unverhofft, stellte Ruth fest, daß sie anfing, milder über ihre Mutter zu urteilen. Je bewußter ihr wurde, wie sehr sie ihr einziges Kind liebte, desto mehr Verständnis brachte sie dafür auf, daß Marion sich alle Mühe gegeben hatte, nicht noch ein Kind zu lieben, nachdem sie zwei verloren hatte.
    Daß ihre Mutter es geschafft hatte, sich nicht das Leben zu nehmen, war für Ruth ebenso erstaunlich wie die Tatsache, daß sie es fertiggebracht hatte, noch ein Kind zu bekommen. Auf einmal begann sie zu verstehen, weshalb ihre Mutter sie verlassen hatte. Marion hatte Ruth bewußt nicht lieben wollen, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ein drittes Kind zu verlieren. (All das hatte Ruth vor fünf Jahren von Eddie erfahren, aber ehe sie selbst

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