Witwe für ein Jahr (German Edition)
Frage stellten, war nicht überraschend. Sie wollten wissen, wie Ruth bei ihren Recherchen im Rotlichtbezirk vorgegangen war. Hatte sie sich wirklich im Wandschrank einer Prostituierten versteckt und sie beim Sex mit einem Freier beobachtet? (Nein, das habe sie nicht, antwortete Ruth.) War ihr »letzter schlimmer Freund« ein Holländer gewesen? (Definitiv nicht, erklärte die Autorin. Doch während sie das sagte, hielt sie Ausschau nach Wim, weil sie überzeugt war, daß er irgendwann auftauchen würde.) Und wieso interessierte sich eine Autorin sogenannter literarischer Romane überhaupt für Prostituierte? (Sie persönlich sei nicht an ihnen interessiert, gab Ruth zur Antwort.)
Es sei wirklich schade, meinten die meisten Journalisten, daß sie ausgerechnet De Wallen so genau in Augenschein genommen habe. Ob es denn nichts anderes an der Stadt gebe, was sie beeindruckt habe?
»Seien Sie nicht spießig«, entgegnete Ruth den Fragestellern. »In Mein letzter schlimmer Freund geht es nicht um Amsterdam. Die Hauptfigur ist keine Holländerin. Lediglich eine Episode spielt hier. Und was der Hauptfigur in Amsterdam widerfährt, zwingt sie dazu, ihr Leben zu ändern. Was mich interessiert, ist die Geschichte ihres Lebens, vor allem das Bedürfnis, ihr Leben zu ändern. Viele Menschen gelangen in ihrem Leben an einen Punkt, der sie dazu zwingt, etwas zu verändern.«
Wie zu erwarten, fragten die Journalisten daraufhin: Haben Sie selbst solche Wendepunkte erlebt? Und: Was haben Sie in Ihrem Leben verändert?
»Ich bin Schriftstellerin«, pflegte Mrs. Cole darauf zu antworten. »Ich habe keine Memoiren geschrieben, sondern einen Roman. Bitte stellen Sie mir Fragen zu meinem Roman.«
Als Harry Hoekstra die Interviews mit Ruth Cole in den Zeitungen las, fragte er sich, weshalb sie sich derart langweiligen und belanglosen Prozeduren unterzog. Warum ließ sie sich überhaupt interviewen? Diese Publicity hatten ihre Bücher doch bestimmt nicht nötig. Warum blieb sie nicht einfach zu Hause und fing einen neuen Roman an? Wahrscheinlich reist sie gern, überlegte Harry.
Er hatte sie schon aus ihrem neuen Roman lesen hören; er hatte sie auch in einer regionalen Fernsehsendung gesehen und bei einer Signierstunde in der Athenaeum-Buchhandlung beobachtet, wo er sich hinter einem Regal postiert hatte. Er brauchte nur ein halbes Dutzend Bücher aus einem Fach zu räumen, um genau verfolgen zu können, wie Ruth Cole mit ihren Fans umging. Ihre begeisterten Leser standen Schlange um ein Autogramm, und während Ruth an einem Tisch saß und signierte und signierte, konnte Harry ihr Profil weitgehend ungehindert betrachten. Durch die Luke im Regal sah er, daß Ruth im rechten Auge tatsächlich einen Fleck hatte, wie er aufgrund des Fotos auf dem Schutzumschlag vermutet hatte. Und sie hatte einen phantastischen Busen.
Obwohl Ruth über eine Stunde lang Bücher signierte, ohne sich zu beklagen, gab es einen doch etwas erschreckenden Zwischenfall. Er verriet Harry, daß Ruth Cole sehr viel weniger nett war, als es auf Anhieb schien; in gewisser Weise spürte er sogar eine ungeheure Wut bei ihr.
Harry hatte sich schon immer zu Menschen hingezogen gefühlt, die ihre Wut im Zaum hielten. Als Polizeibeamter hatte er die Erfahrung gemacht, daß er ungezügelte Wut ausschließlich als Bedrohung empfand. Gezügelte Wut hingegen imponierte ihm, und seiner Meinung nach waren Menschen, die überhaupt keine Wut kannten, im Grunde unaufmerksam.
Die Frau, die den Zwischenfall verursachte, stand um ein Autogramm an; es war eine ältere Frau, die zunächst aussah, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Als sie an der Reihe war, trat sie nach vorn und legte die englische Ausgabe von Mein letzter schlimmer Freund auf den Tisch. Neben ihr stand ein ebenfalls älterer, schüchtern wirkender Mann, der Ruth anlächelte. Die Frau lächelte sie auch an. Das Problem war anscheinend, daß Ruth sie nicht erkannte.
»Soll die Widmung für Sie oder für irgendeinen Angehörigen sein?« fragte Ruth die alte Dame, deren Lächeln merklich abnahm.
»Für mich, bitte«, sagte sie.
Sie sprach mit einem unauffälligen amerikanischen Akzent. Aber in ihrem freundlichen »bitte« schwang ein falscher Unterton mit. Ruth wartete höflich – nein, vielleicht doch ein kleines bißchen ungeduldig – darauf, daß die Frau ihren Namen nannte. Sie sahen einander weiterhin an, ohne daß Ruth sie erkannte.
»Ich heiße Muriel Reardon«, sagte die alte Dame schließlich.
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