Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
er weinte ununterbrochen, wie Hannah später behauptete; ihr rechtes Knie war ganz naß geworden, weil sie seine Hand gehalten hatte. Eddie hatte lautlos vor sich hin geweint, als hätte ihm jedes Wort aus Ruths Mund einen Stich ins Herz versetzt, den er als verdient hinnahm. Nach der Lesung kam er nicht mehr ins Künstlerzimmer. Ruth und Hannah gingen allein zum Abendessen.
    »Eddie hat ausgesehen, als wollte er Selbstmord begehen«, sagte Ruth.
    »Er ist total in dich verknallt, und das macht ihn kaputt«, erklärte ihr Hannah.
    »Sei nicht albern, er ist doch in meine Mutter verliebt.«
    »Mein Gott! Wie alt ist deine Mutter?« fragte Hannah.
    »Sechsundsiebzig«, antwortete Ruth.
    »Das wäre doch obszön, in eine Sechsundsiebzigjährige verliebt zu sein!« meinte Hannah. »Nein, du bist diejenige, welche, Baby. Eddie ist in dich verknallt, das kannst du mir glauben!«
    »Also das wäre wirklich obszön«, sagte Ruth.
    Ein Mann, der, wie es aussah, mit seiner Gattin am Tisch saß, starrte ununterbrochen zu ihnen herüber. Ruth behauptete, er starre Hannah an, aber Hannah behauptete, er starre Ruth an. So oder so, sie waren sich einig, daß man sich nicht so benimmt, wenn man mit seiner Frau zum Essen geht.
    Nachdem die beiden bezahlt hatten, kam der Mann unsicher auf ihren Tisch zu. Er war Mitte Dreißig, jünger als Hannah und Ruth, und sah trotz seiner Armesündermiene, die sich sogar auf seine Haltung zu übertragen schien, gut aus. Je näher er kam, desto mehr sank er in sich zusammen. Seine Frau saß noch immer am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt.
    »Ach du Scheiße! Er wird dir gleich vor den Augen seines Frauchens eine knallen!« flüsterte Hannah Ruth zu.
    »Entschuldigen Sie«, sagte die erbärmliche Gestalt.
    »Ja, was gibt es?« fragte Hannah. Sie versetzte Ruth unter dem Tisch einen Tritt, der besagte: Hab ich’s dir nicht gesagt?
    »Sind Sie nicht Ruth Cole?« fragte der Mann.
    »Scheiße, nein«, sagte Hannah.
    »Ja«, antwortete Ruth.
    »Es ist mir furchtbar peinlich, Sie zu stören«, murmelte der jämmerliche Mensch, »aber meine Frau und ich haben heute unseren Hochzeitstag, und Sie sind ihre Lieblingsautorin. Ich weiß, daß Sie keine Bücher signieren, aber ich habe meiner Frau zum Hochzeitstag Ihren neuen Roman geschenkt, und wir haben ihn zufällig dabei. Es ist mir furchtbar unangenehm, Sie zu bitten, aber würden Sie ihn vielleicht doch signieren?« (Seine Frau wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken.)
    »Himmel noch mal …«, begann Hannah, aber Ruth sprang schon auf. Sie wollte dem Mann die Hand schütteln und seiner Frau ebenfalls. Sie lächelte sogar, als sie ihren Roman signierte. Sie war ganz offensichtlich nicht sie selbst. Und im Taxi, das sie ins Hotel zurückbrachte, sagte Hannah – und gab Ruth damit deutlich das Gefühl, daß sie noch nicht bereit war, in die Welt zurückzukehren –: »Schon möglich, daß heute sein Hochzeitstag war, aber er hat auf deinen Busen geschaut.«
    »Hat er nicht!« protestierte Ruth.
    »Das tun alle, Baby. Du solltest dich lieber dran gewöhnen.«
    Später, in ihrer Suite im Stanhope, widerstand Ruth der Versuchung, Eddie anzurufen. Wahrscheinlich ging im New York Athletic Club ab einer bestimmten Zeit ohnehin niemand mehr ans Telefon. Oder der Betreffende würde wissen wollen, ob der Anrufer auch Sakko und Krawatte trug.
    Statt dessen schrieb Ruth einen Brief an ihre Mutter, deren Torontoer Adresse sich in ihr Gedächtnis eingegraben hatte. »Liebe Mummy«, schrieb sie, »Eddie O’Hare liebt dich noch immer. Deine Tochter Ruth.«
    Das Stanhope-Briefpapier verlieh dem Brief eine offizielle oder zumindest etwas distanzierte Note, die Ruth nicht beabsichtigt hatte. Ein solcher Brief, dachte sie, sollte eigentlich mit »Liebe Mutter« beginnen, aber sie hatte ihre Mutter immer »Mummy« genannt; und so wurde auch sie von Graham genannt, was ihr mehr bedeutete als alles andere auf der Welt. Sie wußte, daß sie in dem Augenblick wieder in die Welt zurückkehrte, in dem sie dem Hotelportier den Brief übergab – unmittelbar vor ihrer Abreise nach Europa.
    »Er geht nach Kanada«, betonte sie. »Bitte sorgen Sie dafür, daß er richtig frankiert wird.«
    »Selbstverständlich«, sagte der Portier.
    Sie befanden sich in der Halle des Stanhope, die von einer üppig verzierten Standuhr beherrscht wurde; sie war das erste, was Graham wiedererkannt hatte, als sie am Tag zuvor das Hotel von der 5th Avenue aus betreten hatten. Jetzt

Weitere Kostenlose Bücher