Witwe für ein Jahr (German Edition)
»Sie erinnern sich wohl nicht an mich?«
»Nein, tut mir leid«, sagte Ruth.
»Ich habe das letzte Mal bei Ihrer Hochzeit mit Ihnen gesprochen«, fuhr die Frau fort. »Es tut mir leid, was ich damals gesagt hatte. Ich fürchte, ich war nicht ganz ich selbst.«
Während Ruth Mrs. Reardon weiter betrachtete, wurde ihr rechtes braunes Auge bernsteinfarben. Sie hatte die abscheuliche alte Witwe, die sie vor fünf Jahren so selbstgerecht angegriffen hatte, aus zwei Gründen nicht wiedererkannt: Zum einen hatte sie nicht damit gerechnet, ihr in Amsterdam über den Weg zu laufen, zum anderen sah die alte Hexe inzwischen erheblich besser aus. Sie war nicht etwa tot, wie Hannah gemeint hatte, sondern hatte sich im Gegenteil recht gut regeneriert.
»Das ist einer dieser Zufälle, die unmöglich reiner Zufall sein können«, sagte Mrs. Reardon auf eine Art, aus der man schließen durfte, daß sie vor kurzem zum Glauben gefunden hatte. Und so war es auch. In den fünf Jahren seit ihrer letzten, unangenehmen Begegnung hatte sie Mr. Reardon, der noch immer strahlend neben ihr stand, kennengelernt und geheiratet, und beide waren eifrige Christen geworden.
»Eigenartigerweise hatte ich das dringende Bedürfnis, Sie um Verzeihung zu bitten, seit mein Mann und ich nach Europa gekommen sind«, fuhr Mrs. Reardon fort, »und ausgerechnet hier treffe ich Sie! Es ist ein Wunder!«
Mr. Reardon überwand seine Schüchternheit und sagte: »Ich war Witwer, als ich Muriel kennengelernt habe. Und jetzt machen wir eine Reise zu den berühmten Kirchen und Kathedralen Europas.«
Ruth betrachtete Mrs. Reardon, wie es Harry Hoekstra vorkam, zunehmend unfreundlich. Seiner Erfahrung nach wollten Christen immer irgend etwas. Und Mrs. Reardon wollte zu ihren Bedingungen Vergebung erlangen!
Ruths Augen verengten sich so, daß der sechseckige Fleck in ihrem rechten Auge nicht mehr zu sehen war. »Sie haben wieder geheiratet«, sagte sie tonlos. Es war ihre Vorlesestimme, eigenartig ausdruckslos.
»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte Muriel Reardon.
»Was ist daraus geworden, daß Sie für den Rest Ihres jämmerlichen Lebens Witwe bleiben wollten?« fragte Ruth.
»Bitte …«, sagte Mrs. Reardon.
Mr. Reardon wühlte in der Tasche seines Sportsakkos und förderte schließlich ein Sortiment handbeschriebener Karteikärtchen zutage. Er schien eine bestimmte Karte zu suchen, konnte sie aber nicht finden. Unverzagt begann er, den Text von irgendeiner anderen Karte abzulesen. »›Denn der Tod ist der Sünde Sold‹«, las er, »›aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben …‹«
»Doch nicht diesen Spruch!« rief Mrs. Reardon. »Lies ihr den über die Vergebung vor!«
»Ich vergebe Ihnen nicht«, erklärte Ruth. »Was Sie zu mir gesagt haben, war gehässig, grausam und falsch.«
»›Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede‹«, las Mr. Reardon von einem anderen Kärtchen ab. Obwohl auch das nicht das Zitat war, das er suchte, fühlte er sich verpflichtet, die Quelle zu nennen. »Das ist aus dem Paulusbrief an die Römer.«
»Du und deine Römer«, fuhr Mrs. Reardon ihn an.
»Der nächste!« rief Ruth, denn der nächste Leser in der Schlange hatte allen Grund, ungeduldig zu werden.
»Ich werde Ihnen nie verzeihen, daß Sie mir nicht verzeihen!« rief Muriel Reardon mit recht unchristlichem Gift in der Stimme.
»Scheiß auf Sie und Ihre beiden Männer!« rief Ruth ihr nach, als ihr neuer Mann sie mit Mühe wegführte. Er steckte die Bibelzitate wieder in seine Sakkotasche, bis auf eines. Vielleicht war es der Spruch, den er gesucht hatte, aber das würde wohl nie jemand erfahren.
Harry hatte sich schon gedacht, daß der etwas entsetzt dreinblickende Mann, der neben Ruth Cole saß, ihr holländischer Verleger war. Ruth lächelte Maarten an – ein Lächeln, das Harry an Ruth noch nicht gesehen hatte, das er aber ganz richtig als Zeichen ihres wiedergewonnenen Selbstvertrauens deutete. Und es bewies wirklich, daß ein Teil ihres alten Selbstbewußtseins noch intakt war, als sie jetzt wieder in die Welt zurückkehrte.
»Wer war denn diese dumme Kuh?« fragte Maarten.
»Ach, nicht der Rede wert«, antwortete Ruth. Sie hielt mitten beim Signieren inne und sah sich neugierig um, als wollte sie plötzlich wissen, wer ihre lieblose Bemerkung mitbekommen hatte – alle ihre lieblosen Bemerkungen. (War es Brecht, der gesagt hat, daß wir unseren Feinden früher oder später immer ähnlicher werden?
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