Witwe für ein Jahr (German Edition)
er größere Vorsicht walten. Harry trainierte nur mit Gewichten. Die schwereren Scheibenhanteln und Kurzhanteln befanden sich an einem Ende des langgezogenen Raums, aber dank der Spiegel konnte Harry Ruth im Auge behalten; inzwischen war er auch mit ihrem Trainingsprogramm vertraut.
Erst machte sie eine Reihe von Bauchmuskelübungen auf der Matte, gefolgt von ausgiebigem Stretching. Harry haßte Stretching. Dann strampelte sie, mit einem Handtuch um den Hals, eine halbe Stunde lang auf dem Ergometer, bis sie ordentlich schwitzte. Anschließend trainierte sie ihre Muskulatur mit leichten Gewichten, nie mehr als zwei oder drei Kilo schwer. Den einen Tag kamen Schultern und Arme an die Reihe, am nächsten Brust und Rücken.
Alles in allem trainierte Ruth etwa eineinhalb Stunden – ein mäßig intensives, vernünftiges Trainingsprogramm für eine Frau ihres Alters. Auch ohne ihre Squash-Vergangenheit zu kennen, konnte Harry feststellen, daß Ruths rechter Arm sehr viel kräftiger war als der linke. Doch am meisten beeindruckte ihn, daß sie sich von nichts ablenken ließ, nicht einmal von der schauerlichen Musik. Wenn sie auf dem Ergometer saß, hatte sie die halbe Zeit die Augen geschlossen. Wenn sie Gewichte hob oder auf der Matte lag, schien sie an nichts zu denken, nicht einmal an ihr nächstes Buch. Dann bewegten sich ihre Lippen, als zählte sie vor sich hin.
Im Verlauf der eineinhalb Stunden trank Ruth einen Liter Mineralwasser. Wenn die Plastikflasche leer war, warf sie sie nie in den Abfallkorb, ohne die Kappe aufzuschrauben – ein belangloses, aber typisches Merkmal eines zwanghaft ordentlichen Menschen. Von einer dieser Wasserflaschen, die sie weggeworfen hatte, konnte Harry mühelos einen deutlichen Fingerabdruck ihres rechten Zeigefingers abnehmen. Und da war sie: die schnurgerade, senkrechte Linie. Kein Messer konnte einen so sauberen Schnitt gemacht haben; es mußte Glas gewesen sein. Die Narbe war so fein und dünn, daß sie kaum mehr zu sehen war; Ruth Cole mußte sie sich in sehr jungen Jahren geholt haben.
Mit einundvierzig war Ruth mindestens zehn Jahre älter als alle anderen Frauen im Fitneßstudio auf dem Rokin; sie trug auch keinen dieser hautengen Stretchanzüge, die die jüngeren Frauen bevorzugten, sondern eine locker sitzende, kurze Turnhose, wie sie für Männer üblich ist, und ein T-Shirt, das sie in den Bund gesteckt hatte. Ihr war bewußt, daß sie mehr Bauch hatte als vor Grahams Geburt und daß ihre Brüste mehr hingen als früher, obwohl sie genausoviel wog wie damals, als sie noch Squash gespielt hatte.
Auch die meisten Männer im Fitneßstudio waren mindestens zehn Jahre jünger als sie. Es gab nur einen älteren Mann, einen Gewichtheber, der ihr für gewöhnlich den Rücken zuwandte; von seinem Gesicht hatte sie immer nur Bruchstücke in irgendwelchen Spiegeln gesehen. Er wirkte sehr fit, hatte aber eine Rasur nötig. Am dritten Morgen, als sie das Fitneßstudio verließ, erkannte sie ihn. Es war ihr Polizist. (Seit sie ihn bei Athenaeum gesehen hatte, betrachtete sie ihn als ihren ganz persönlichen Polizisten.)
Bei ihrer Rückkehr ins Hotel war sie ganz und gar nicht darauf vorbereitet, in der Halle Wim Jongbloed anzutreffen. Nach drei Tagen in Amsterdam dachte sie kaum mehr an ihn; sie hatte allmählich geglaubt, er würde sie in Ruhe lassen. Und jetzt war er da, anscheinend mit Frau und Kind, und er war so dick geworden, daß sie ihn erst erkannte, als er sie ansprach. Als er sie zu küssen versuchte, gab sie ihm demonstrativ die Hand.
Das Baby hieß Klaas. Es war ein formloser Klops, und sein aufgedunsenes Gesicht sah aus, als hätte man es im Wasser liegen gelassen. Die Frau, die Ruth als »Harriët mit zwei Pünktchen auf dem e« vorgestellt wurde, war ähnlich aufgedunsen; sie trug noch überschüssiges Fett von der Schwangerschaft mit sich herum. Die Flecken auf ihrer Bluse verrieten, daß sie noch stillte. Aber Ruth merkte bald, daß vor allem diese Begegnung sie unverhältnismäßig mitnahm. Warum? fragte sie sich. Was hatte Wim seiner Frau von ihr erzählt?
»Sie haben ein reizendes Baby«, log Ruth Wims kläglich aussehende Frau an. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie elend sie sich das ganze erste Jahr nach Grahams Geburt gefühlt hatte. Sie hatte großes Mitgefühl mit jungen Müttern, aber ihr unaufrichtiges Kompliment machte auf die bedauernswerte Frau keinen erkennbaren Eindruck.
»Harriët versteht kein Englisch«, erklärte Wim. »Aber sie hat dein
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