Witwe für ein Jahr (German Edition)
überlegte sie.)
Als Harry merkte, daß Ruth ihn ansah, zog er sein Gesicht von der Luke im Bücherregal zurück, allerdings erst, nachdem sie ihn gesehen hatte.
Scheiße! Ich bin drauf und dran, mich in sie zu verlieben! dachte Harry. Er hatte sich noch nie verliebt. Zuerst befürchtete er, einen Herzinfarkt zu bekommen. Eilig verließ er die Buchhandlung; er wollte lieber auf der Straße sterben.
Als die Schlange derer, die um ein Autogramm von Ruth Cole anstanden, auf eine Handvoll Unentwegte zusammengeschrumpft war, fragte einer der Buchhändler: »Wo ist eigentlich Harry? Ich habe ihn vorher gesehen. Will er sich seine Bücher denn nicht signieren lassen?«
»Wer ist Harry?« fragte Ruth.
»Ihr größter Fan«, sagte der Buchhändler. »Und er ist zufällig Polizist. Aber vermutlich ist er gegangen. Ich habe ihn sonst noch nie bei einer Signierstunde gesehen, und Lesungen mag er auch nicht.«
Ruth saß ruhig am Tisch und signierte die letzten Exemplare ihres neuen Romans.
»Sogar Polizisten lesen deine Bücher!« sagte Maarten zu ihr.
»Na ja …«, meinte Ruth. Mehr brachte sie nicht zustande. Die Luke zwischen den Büchern, in der sie sein Gesicht gesehen hatte, war jetzt geschlossen. Jemand hatte die Bücher wieder an ihren Platz gestellt. Das Gesicht des Polizisten war verschwunden, aber vergessen hatte sie es nie: Der Polizist in Zivil, der ihr durch den Rotlichtbezirk gefolgt war, verfolgte sie noch immer!
Am besten an ihrem neuen Hotel in Amsterdam gefiel Ruth, daß sie es nicht weit bis ins Fitneßstudio am Rokin hatte. Am wenigsten behagte ihr die Nähe zum Rotlichtbezirk – das Hotel lag keinen halben Block von De Wallen entfernt.
Und es war ihr ausgesprochen unangenehm, als Amanda sie fragte, ob sie sich mit Graham die Oude Kerk ansehen dürfe. (Amsterdams älteste Kirche, die vermutlich um 1300 erbaut wurde, liegt mitten im Rotlichtbezirk.) Amanda hatte in einem Reiseführer gelesen, mit Kindern sei es empfehlenswert, auf den Turm der alten Kirche zu steigen, weil man von dort einen großartigen Blick über die Stadt habe.
Ruth verschob einen Interviewtermin, um Amanda und Graham das kurze Stück bis zur Kirche zu begleiten; sie wollte sich davon überzeugen, daß man den Turm gefahrlos besteigen konnte. Vor allem aber wollte sie Amanda und Graham so durch De Wallen führen, daß ihr vierjähriger Sohn möglichst keine Gelegenheit bekam, eine Prostituierte in ihrem Fenster zu sehen.
Sie bildete sich ein zu wissen, wie sie es anstellen mußte. Wenn sie die Gracht am Stoofsteeg überquerte und dann auf der Wasserseite weiterging, konnte Graham wohl kaum einen Blick in die schmalen Seitengassen werfen, in denen die Frauen in ihren Fenstern so nahe waren, daß man sie berühren konnte. Doch Amanda wollte sich ein Souvenir-T-Shirt kaufen, das sie im Fenster des Café Bulldog entdeckt hatte. Und dort bekam Graham aus nächster Nähe eine Prostituierte zu Gesicht, die ihr Fenster am Trompetterssteeg verlassen hatte, um sich im Bulldog ein Päckchen Zigaretten zu kaufen. (Eine höchst erstaunte Amanda bekam sie versehentlich auch zu Gesicht.) Die Prostituierte, eine zierliche Brünette, trug einen limonengrünen Body mit Druckknöpfen am Zwickel; ihre hochhackigen Schuhe waren ebenfalls grün, nur etwas dunkler.
»Schau, Mummy«, sagte Graham. »Die Frau da ist noch nicht angezogen.«
Der Blick vom Turm der Oude Kerk auf De Wallen war wirklich phantastisch. Aus dieser Höhe waren die Fensterprostituierten zu weit entfernt, als daß Graham hätte erkennen können, wie spärlich sie bekleidet waren, doch selbst aus dieser Höhe konnte Ruth die unablässig umherschlendernden Männer ausmachen. Als sie etwas später die alte Kirche verließen, schlug Amanda die falsche Richtung ein. Auf dem hufeisenförmigen Oudekerksplein standen mehrere südamerikanische Prostituierte in ihren Türen und plauderten miteinander.
»Noch mehr Frauen, die nicht angezogen sind«, sagte Graham geistesabwesend; ihn störte es nicht die Bohne, daß die Frauen nahezu nackt waren. Ruth wunderte sich über seinen Mangel an Interesse; immerhin war er bereits in einem Alter, in dem sie nicht mehr mit ihm in die Badewanne stieg.
»Graham kann meinen Busen nicht in Ruhe lassen«, hatte sich Ruth bei Hannah beklagt.
»Wie alle anderen«, hatte Hannah gemeint.
Drei Vormittage hintereinander hatte Harry in seinem Fitneßstudio am Rokin Ruth beim Trainieren beobachtet. Nachdem sie ihn in der Buchhandlung bemerkt hatte, ließ
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