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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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karrte der Träger ihr Gepäck an der imposanten Uhr vorbei. Er hieß Mel und war immer besonders aufmerksam zu Graham; er hatte auch Dienst gehabt, als Allans Leiche aus dem Hotel abtransportiert worden war. Wahrscheinlich hatte Mel damals mitgeholfen, aber Ruth wollte sich wahrhaftig nicht an alle Einzelheiten erinnern.
    Graham folgte an Amandas Hand dem Gepäck auf die 5th Avenue hinaus, wo ihre Limousine wartete.
    »Auf Wiedersehen, Uhr!« sagte Graham.
    Als der Wagen losfuhr, verabschiedete sich Ruth von Mel.
    »Auf Wiedersehen, Mrs. Cole«, erwiderte Mel.
    Das bin ich also! erkannte Ruth Cole. Natürlich hatte sie nie ihren Namen geändert – dafür war sie zu berühmt. Offiziell war sie nie Mrs. Albright geworden. Aber sie war eine Witwe, die sich noch immer verheiratet fühlte; sie war Mrs. Cole. Ich werde immer Mrs. Cole bleiben, dachte sie.
    »Auf Wiedersehen, Mels Hotel!« rief Graham.
    Sie ließen die Springbrunnen vor dem Metropolitan Museum hinter sich, die flatternden Fahnen und den dunkelgrünen Baldachin des Stanhope, unter dem ein Kellner auf das einzige Paar zueilte, dem es anscheinend nicht zu kühl war, um an einem der Tische auf dem Gehsteig zu sitzen. Aus der Perspektive von Graham, der tief in den Rücksitz der dunklen Limousine versank, reichte das Stanhope bis hinauf zu den Wolken, vielleicht sogar bis in den Himmel.
    »Auf Wiedersehen, Daddy!« rief der kleine Junge.
    Besser als mit einer Prostituierten in Paris

    Auslandsreisen mit einem Vierjährigen erfordern eine enorme Aufmerksamkeit für banale Kleinigkeiten, die zu Hause als selbstverständlich gelten. Der Geschmack (ja sogar die Farbe) des Orangensafts verlangt eine Erklärung. Ein Croissant ist nicht immer so gut, wie es sein sollte. Und die unterschiedlichen Toilettenspülungen, vor allem die Frage, wie sie genau funktionieren und welche Geräusche sie machen, sind eine ausgesprochen ernstzunehmende Angelegenheit. Zwar hatte Ruth das Glück, daß Graham selbständig auf die Toilette gehen konnte, aber es ärgerte sie dennoch, daß es Toiletten gab, auf die er sich nicht zu setzen wagte. Graham konnte sich unter Jetlag nichts vorstellten, aber er litt darunter; er hatte Verstopfung, konnte jedoch nicht begreifen, daß das eine unmittelbare Folge dessen war, daß er sich weigerte, bestimmte Sachen zu essen oder zu trinken.
    In London untersagte Ruth Amanda und Graham wegen des Linksverkehrs grundsätzlich, Straßen zu überqueren, außer um in den kleinen Park ganz in der Nähe zu gehen; abgesehen von diesem wenig abenteuerlichen Ausflug mußten sich die beiden auf das Hotel beschränken. Graham entdeckte, daß die Bettlaken im Connaught gestärkt waren. Ob Stärke lebendig sei, wollte er wissen. »Es fühlt sich lebendig an«, meinte er.
    Als sie nach Amsterdam weiterfuhren, wünschte Ruth, sie wäre in London halb so beherzt gewesen wie Amanda. Auf ihre direkte Art hatte das Mädchen einen spürbaren Erfolg erzielt: Graham hatte den Jetlag überwunden, litt nicht mehr unter Verstopfung und hatte keine Angst mehr vor fremden Toiletten; Ruth hingegen hatte allen Grund, zu bezweifeln, daß sie auch nur mit einem Funken des Selbstbewußtseins, das sie einst an den Tag gelegt hatte, in die Welt zurückgekehrt war.
    Während sie die Journalisten früher ins Gebet genommen hatte, weil sie ihre Bücher nicht gelesen hatten, bevor sie sie interviewten, ertrug sie diese Demütigung diesmal schweigend. Drei oder vier Jahre lang an einem Roman zu schreiben und dann eine Stunde lang oder länger mit einem Journalisten zu verschwenden, der sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, ihn zu lesen … also wenn das keinen erheblichen Mangel an Selbstachtung bewies, was dann? (Dabei war Mein letzter schlimmer Freund nicht einmal ein langer Roman.)
    Mit einer Sanftmut, die völlig untypisch für sie war, hatte sie sich auch eine immer wiederkehrende und absolut vorhersehbare Frage gefallen lassen, die nichts mit ihrem neuen Roman zu tun hatte: nämlich wie sie mit ihrem Dasein als Witwe »zurechtkam« und ob sie in ihrer gegenwärtigen Situation Erfahrungen machte, die dem widersprachen, was sie in ihrem vorletzten Roman über das Witwendasein geschrieben hatte.
    »Nein«, sagte Mrs. Cole – denn als solche betrachtete sie sich mehr und mehr. »Alles ist genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe.«
    Daß die holländischen Journalisten in Amsterdam mit Vorliebe noch eine andere ebenso zuverlässig wiederkehrende und absolut vorhersehbare

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