Witwe für ein Jahr (German Edition)
Sie hatte versucht, einen Platz im Bus zu bekommen, aber sämtliche Busse waren ausgebucht. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, gegen Abend den 18-Uhr-01 zur Penn Station zu nehmen. »Aber ich muß so schnell wie möglich hier weg, sonst drehe ich durch«, erklärte Hannah. »Die Turteltauben machen mich noch ganz verrückt. Ich habe mir gedacht, du weißt bestimmt, wann die Züge fahren.«
Und ob Eddie das wußte! Nachmittags gab es an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen in Richtung Westen den 16-Uhr-01. Man bekam in Bridgehampton fast immer einen Platz. Trotzdem warnte Eddie Hannah, daß sie möglicherweise stehen müsse, wenn der Zug überfüllt sei.
»Und du glaubst nicht, daß mir irgendein Kerl seinen Platz anbietet oder mich wenigstens auf seinem Schoß sitzen läßt?« fragte Hannah. Diese Vorstellung deprimierte Eddie noch mehr, aber er erklärte sich bereit, Hannah abzuholen und sie zum Bahnhof nach Bridgehampton zu bringen. Die Grundmauern des verfallenen Bahnhofsgebäudes befanden sich buchstäblich neben Eddies Haus.
Es regnete, und es war kalt an diesem Sonntag, mit dem Thanksgiving zu Ende ging. Harry hatte versprochen, nachmittags mit Graham am Strand spazierenzugehen, und Ruth hatte erklärt, sie wolle ein ausgiebiges Bad nehmen. Während sie in der Badewanne lag, mußte sie daran denken, daß ihr Vater sie an diesem Tag vor vielen Jahren nach New York ins Stanhope hatte fahren lassen, wo er offenbar mit vielen seiner Freundinnen abgestiegen war. Auf dem Weg dorthin hatte er ihr die Geschichte von Thomas’ und Timothys Unfall erzählt, während sie den Blick nicht eine Sekunde lang von der Straße abgewandt hatte. Nun streckte sie sich in der Badewanne aus und hoffte, daß Harry sich und Graham für den Strandspaziergang im Regen entsprechend angezogen hatte.
Als Eddie Hannah abholte, stiegen der Holländer und der Junge, beide in Öljacken und breitkrempigen Südwestern, gerade in Kevin Mertons Pick-up. Graham hatte außerdem ein Paar kniehohe Gummistiefel an, während Harry seine gewohnten Laufschuhe trug, die ruhig naß werden durften. (Nachdem sie ihm in De Wallen gute Dienste geleistet hatten, taten sie es bestimmt auch für den Strand.)
Wegen des schlechten Wetters fuhren nicht übermäßig viele New Yorker mit dem Spätnachmittagszug zurück in die Stadt; die meisten waren schon früher abgereist. Als der 16-Uhr-01 in Bridgehampton einfuhr, war er nicht überfüllt.
»Wenigstens brauche ich meine Unschuld nicht zu opfern oder was weiß ich, um einen verdammten Sitzplatz zu ergattern«, meinte Hannah.
»Paß gut auf dich auf, Hannah«, sagte Eddie, aufrichtig besorgt, wenn auch nicht nur liebevoll.
»Du bist derjenige, der auf sich aufpassen sollte, Eddie.«
»Ich kann schon auf mich aufpassen«, protestierte Eddie.
»Ich will dir mal was sagen, mein komischer Freund«, sagte Hannah. »Die Zeit bleibt nicht stehen.« Sie nahm seine Hände und küßte ihn auf beide Wangen. Sie verabschiedete sich lieber so als mit einem Händedruck. Manchmal fickte sie die Leute auch statt dessen.
»Was willst du damit sagen?« fragte Eddie.
»Es ist fast vierzig Jahre her, Eddie. Es wird Zeit, daß du drüber wegkommst!«
Dann fuhr der Zug mit ihr ab, und Eddie, der bei Hannahs Bemerkung erstarrt war, stand im Regen da. Ihre Worte rührten an einen so uralten Kummer, daß sie Eddie noch nachgingen, während er achtlos ein Abendessen richtete und verschlang.
»Die Zeit bleibt nicht stehen«, hallten ihre Worte in seinem Kopf wider, noch lange nachdem er ein mariniertes Thunfischsteak auf den Grill geworfen hatte. (Wenigstens war der Gasgrill auf der vorderen Veranda seines wenig imposanten Hauses vor Regen geschützt.) »Es ist fast vierzig Jahre her, Eddie.« Eddie wiederholte diesen Satz, während er sein Thunfischsteak mit einer Pellkartoffel und einer Handvoll gekochter Tiefkühlerbsen verspeiste. »Es wird Zeit, daß du drüber wegkommst!« sagte er laut, während er seinen Teller und sein Weinglas abspülte. Als er sich noch ein Cola light holte, war er so niedergeschlagen, daß er es direkt aus der Dose trank.
Das Haus erbebte, als der 18-Uhr-01 in Richtung Westen vorbeifuhr – der vorletzte Zug am Sonntag in Richtung Westen. »Ich hasse Züge!« schrie Eddie; nicht einmal sein unmittelbarer Nachbar hätte ihn über den Lärm des ratternden Zuges hinweg hören können.
Und noch einmal erzitterte das ganze Haus, als der 20-Uhr-04 vorbeiratterte, der am Sonntag nun wirklich der letzte Zug
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