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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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scheuchte ihr Rattern ein oder zwei Hunde auf.
    Eine Frau kam durch den Nebel näher. Hinter sich zog sie einen jener Rollenkoffer her, die man häufig auf Flughäfen sieht. In Anbetracht des holprigen Straßenbelags – des rissigen Asphalts, der Kiesbankette und vor allem der Pfützen – hatte die Frau einige Mühe mit ihrem Koffer, der besser für Flughäfen geeignet war als für das falsche Ende der Maple Lane.
    In der Dunkelheit und der dunstigen Luft ließ sich das Alter der Frau nicht feststellen. Sie war durchschnittlich groß, ziemlich schlank, ohne jedoch zerbrechlich zu wirken, und selbst in ihrem formlosen Regenmantel, den sie der Kälte wegen fest um sich gezogen hatte, sah man, daß sie eine gute Figur hatte. Ihr Körper war keineswegs der einer älteren Frau, obwohl Eddie jetzt erkennen konnte, daß es sich um eine ältere Frau handelte – wenn auch um eine sehr schöne.
    Da er nicht wußte, ob die Frau ihn im Schatten der Veranda stehen sehen konnte, trat er vor und sagte, so behutsam wie möglich, um sie nicht zu erschrecken: »Entschuldigen Sie. Kann ich Ihnen helfen?«
    »Hallo, Eddie«, sagte Marion. »Ja, aber sicher kannst du mir helfen. Ich habe mir eine Ewigkeit überlegt, wie gern ich mir von dir helfen lassen würde.«
    Worüber sprachen die beiden nach siebenunddreißig Jahren? (Wenn Ihnen das passiert wäre, worüber hätten Sie zuerst gesprochen?)
    »Trauer kann ansteckend sein, Eddie«, sagte Marion, als er ihr den Regenmantel abnahm und ihn in den Garderobenschrank im Flur hängte. In seinem Haus gab es nur zwei Schlafzimmer. Das Gästezimmer mit einem Einzelbett war klein und stickig und befand sich im ersten Stock, neben einem zweiten kleinen Zimmer, das Eddie als Arbeitszimmer diente. Das größere Schlafzimmer war unten; vom Wohnzimmer aus, wo Marion jetzt auf der Couch saß, konnte man hineinsehen.
    Als Eddie mit Marions Koffer nach oben gehen wollte, hielt sie ihn zurück. »Ich schlafe bei dir, Eddie, wenn es dir recht ist. Ich steige nicht mehr so gern Treppen.«
    »Natürlich ist es mir recht«, sagte Eddie und brachte ihren Koffer in sein Schlafzimmer.
    »Trauer ist wirklich ansteckend«, begann Marion noch einmal. »Ich wollte dich nicht mit meiner Trauer anstecken, Eddie. Und ich wollte auf keinen Fall, daß Ruth sich ansteckt.«
    Hatte es andere junge Männer in ihrem Leben gegeben? Man kann es Eddie nicht verdenken, daß er ihr diese Frage stellte. Jüngere Männer hatten sich schon immer zu Marion hingezogen gefühlt. Aber wer von ihnen hätte es je mit ihrer Erinnerung an die beiden jungen Männer aufnehmen können, die sie verloren hatte? Es hatte auch keinen einzigen jüngeren Mann gegeben, der es mit ihrer Erinnerung an Eddie aufnehmen konnte! Was Marion mit Eddie angefangen hatte, war mit ihm zu Ende gewesen.
    Man kann es Eddie auch nicht verdenken, daß er außerdem wissen wollte, ob sie mit älteren Männern zusammengewesen war. (Schließlich war ihm diese Konstellation vertrauter.) Aber wenn sich Marion auf die Gesellschaft älterer Männer eingelassen hatte – meist waren es Witwer, aber auch geschiedene Männer und unerschrockene Junggesellen –, stellte sie fest, daß selbst ihnen bloße »Kameradschaft« nicht genügte; sie erwarteten selbstverständlich auch Sex. Und Marion wollte keinen Sex – nach der Affäre mit Eddie wollte sie schlicht und einfach nicht.
    »Ich will nicht behaupten, daß sechzigmal genug waren«, erklärte sie ihm, »aber du hast doch Maßstäbe gesetzt.«
    Zuerst dachte Eddie, es müsse die frohe Botschaft von Ruths zweiter Hochzeit gewesen sein, die Marion endlich aus Kanada hergelockt hatte, aber obwohl sie sich freute, von dem Glück ihrer Tochter zu hören, gestand sie ihm, daß ihr von Harry Hoekstra noch nichts zu Ohren gekommen sei.
    Und nun wollte Eddie natürlich wissen, weshalb sie ausgerechnet jetzt in die Hamptons zurückgekehrt sei. Wenn er an die vielen Anlässe dachte, bei denen er und Ruth halbwegs damit gerechnet hatten, daß Marion auftauchte … also, weshalb ausgerechnet jetzt?
    »Ich habe gehört, daß das Haus zu verkaufen ist«, erklärte ihm Marion. »Es war nie das Haus, von dem ich wegmußte – auch von dir nicht, Eddie.«
    Sie warf ihre durchnäßten Schuhe ab, und durch die seidige Strumpfhose, die einen hellen Hautton hatte, leuchteten ihre Zehennägel in demselben Rosa wie die wilden Strandrosen, die hinter dem Anwesen der furchterregenden Mrs. Vaughn in Southampton wuchsen.
    »Dein früheres Haus ist

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