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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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blieb reglos, ihr Gesicht war eine Maske, ihr Körper wie versteinert.
    »Mummy!« rief Ruth, aber Marion hörte sie nicht, sie blinzelte nicht einmal. Eddie erstarrte und wartete darauf, daß die kleinen Füße durchs Bad tappten. Aber Ruth blieb in ihrem Bett. »Mummy?« rief sie, diesmal zaghafter. Ihre Stimme klang leicht beunruhigt. Eddie ging auf Zehenspitzen ins Bad. Er schlang sich ein Badehandtuch um die Hüften – allemal besser als ein Lampenschirm. Dann wollte er sich, so leise wie möglich, auf den Gang hinausschleichen.
    »Eddie?« rief Ruth leise.
    »Ja«, antwortete Eddie. Er zog das Handtuch fester um die Hüften und ging barfuß durchs Bad ins Kinderzimmer. Er war überzeugt, daß das Kind noch mehr erschrocken wäre, wenn es seine Mutter in ihrem augenblicklichen katatonischen Zustand gesehen hätte.
    Ruth saß aufrecht im Bett und rührte sich nicht, als Eddie ihr Zimmer betrat. »Wo ist Mummy?« fragte sie.
    »Sie schläft«, log Eddie.
    »Ach so.« Mit Blick auf das Handtuch, das sich Eddie um die Hüften geknotet hatte, fragte sie: »Hast du gebadet?«
    »Ja«, log er wieder.
    »Ach so«, sagte Ruth. »Aber was habe ich denn geträumt?«
    »Was du geträumt hast?« wiederholte Eddie verständnislos. »Hm, das weiß ich nicht. Ich habe deinen Traum nicht geträumt. Was hast du denn geträumt?«
    »Sag du’s mir!« verlangte Ruth.
    »Aber es ist doch dein Traum«, stellte Eddie klar.
    »Ach so«, sagte Ruth.
    »Möchtest du einen Schluck Wasser?« fragte Eddie.
    »Okay.« Ruth wartete, während Eddie das Wasser laufen ließ, bis es kalt war, und ihr einen Becher voll brachte. Als sie ihm den Becher zurückgab, fragte sie: »Wo sind die Füße?«
    »Auf dem Foto, wo sie hingehören.«
    »Aber was ist mit ihnen passiert?«
    »Nichts ist mit ihnen passiert«, versicherte ihr Eddie. »Möchtest du sie sehen?«
    »Ja.« Ruth streckte ihm die Arme entgegen, sie wollte getragen werden, und Eddie hob sie aus dem Bett. Zusammen gingen sie durch den unbeleuchteten Flur. Beiden war die unendliche Vielfalt des Mienenspiels auf den Gesichtern der toten Jungen bewußt, deren Fotos sich zum Glück im Halbdunkel befanden. Am Ende des Ganges schien das Licht aus Eddies Zimmer so hell wie ein Leuchtfeuer. Eddie trug Ruth ins Gästebad; dort betrachteten sie, wortlos, das Foto von Marion im Hˆotel du Quai Voltaire.
    Dann sagte Ruth: »Es war noch ganz früh. Mummy ist gerade aufgewacht. Thomas und Timothy sind unter ihre Bettdecke gekrabbelt. Daddy hat das Foto gemacht, in Frankreich.«
    »Ja, in Paris«, ergänzte Eddie. (Marion hatte ihm erzählt, daß das Hotel an der Seine lag; aus dem Zimmer sah man direkt auf den Louvre. Für Marion war es der erste Besuch in Paris gewesen, für ihre Söhne der einzige.)
    Ruth zeigte auf den größeren der beiden nackten Füße. »Thomas«, sagte sie. Dann deutete sie auf den kleineren; sie wartete darauf, daß Eddie etwas sagte.
    »Timothy?« riet Eddie.
    »Richtig«, sagte Ruth. »Aber was hast du mit den Füßen gemacht?«
    »Ich? Nichts«, log Eddie.
    »Es hat ausgesehen wie Papier, kleine Papierstreifen«, erklärte Ruth. Sie sah sich forschend im Bad um. Dann ließ sie sich von Eddie absetzen, um im Papierkorb nachzusehen. Aber die Zugehfrau hatte ihn schon viele Male geleert, seitdem Eddie die Papierstreifen entfernt hatte. Schließlich streckte Ruth Eddie beide Arme entgegen; er nahm sie wieder auf den Arm.
    »Ich hoffe, es passiert nicht noch einmal«, sagte sie.
    »Vielleicht ist es nie passiert, vielleicht war es nur ein Traum«, meinte Eddie.
    »Nein.«
    »Dann ist es wohl ein Rätsel.«
    »Nein. Es war Papier. Zwei Streifen.« Mit finsterem Blick betrachtete Ruth das Foto, als wollte sie sagen: Wehe, du veränderst dich! Viele Jahre später sollte es Eddie O’Hare keineswegs überraschen, daß Ruth Cole als Schriftstellerin sehr realistisch war.
    Irgendwann fragte er Ruth: »Möchtest du nicht wieder in dein Bettchen?«
    »Doch«, antwortete Ruth, »aber nimm das Bild mit.«
    Sie gingen durch den dunklen Flur, der jetzt noch dunkler wirkte, da das schwache Nachtlicht aus dem Elternschlafzimmer nur einen matten Schimmer durch die offene Tür von Ruths Zimmer warf. Ruth lehnte sich an Eddies Brust. Sie war fast schon zu schwer, um auf einem Arm getragen zu werden, aber in der anderen Hand hatte Eddie das Foto.
    Er legte Ruth wieder in ihr Bett und stellte das Bild von Marion und den Füßen vor die Kommode; aber Ruth beklagte sich, daß es zu weit vom Bett weg

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