Witwe für ein Jahr (German Edition)
sei und sie es nicht richtig sehen könne. Schließlich lehnte Eddie es an den Hocker, der neben dem Bett stand. Nun war Ruth zufrieden und schlief wieder ein.
Bevor Eddie in sein Zimmer zurückkehrte, warf er noch einen Blick auf Marion. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen im Schlaf leicht geöffnet, und aus ihrem Körper war jene entsetzliche Starre gewichen. Sie war nur bis zu den Hüften zugedeckt. Es war eine warme Nacht, aber dennoch bedeckte Eddie ihre Brüste mit dem Laken. So sah Marion etwas weniger verlassen aus.
Eddie war so müde, daß er sich mit dem Handtuch um die Hüften auf sein Bett legte und sofort einschlief. Am Morgen wachte er davon auf, daß Marion ihn rief – sie schrie seinen Namen – und Ruth hysterisch weinte. Er lief durch den Flur (noch immer in seinem Handtuch) und fand Marion und Ruth im Bad, über ein blutverschmiertes Waschbecken gebeugt. Überall war Blut: auf Ruths Schlafanzug, in ihrem Gesicht, in ihren Haaren. Die Ursache war ein tiefer Schnitt in Ruths rechtem Zeigefinger. Das oberste Fingerglied war bis zum Knochen aufgeschlitzt. Der Schnitt war absolut gerade und hauchdünn.
»Sie hat was von Glas gesagt«, erklärte Marion, »aber in der Wunde ist kein Glas. Was für Glas denn, Schätzchen?« fragte sie Ruth.
»Das Foto, das Foto!« schluchzte das Kind.
Bei dem Versuch, das Bild unter ihrem Bett zu verstecken, mußte Ruth damit an den Bettrahmen oder den Hocker gestoßen sein. Das Bilderglas war zerbrochen; das Foto selbst war unversehrt, das Passepartout jedoch hatte Blutflecken abbekommen.
»Was hab ich getan?« fragte die Vierjährige immer wieder. Eddie hielt sie auf dem Arm, während ihre Mutter sich anzog; dann nahm Marion sie auf den Arm, während Eddie sich anzog.
Ruth hatte zu weinen aufgehört und sorgte sich mehr um das Bild als um ihren Finger. Sie entfernten das Foto samt dem blutverschmierten Passepartout aus dem zerbrochenen Rahmen und nahmen es auf Ruths Wunsch mit ins Auto, als sie ins Krankenhaus fuhren. Marion versuchte Ruth darauf vorzubereiten, daß der Finger genäht werden mußte und sie wahrscheinlich mindestens eine Spritze bekommen würde. Tatsächlich waren es zwei, die Betäubungsspritze vor dem Nähen und anschließend eine Tetanusspritze. Obwohl der Schnitt sehr tief war, war er so glatt und fein, daß Marion meinte, bestimmt seien höchstens zwei oder drei Stiche nötig und es würde keine sichtbare Narbe zurückbleiben.
»Was ist eine Narbe?« wollte Ruth wissen. »Muß ich sterben?«
»Nein, du mußt nicht sterben, Schätzchen«, beruhigte ihre Mutter sie.
Dann wandte sich das Gespräch dem Bild und seinem beschädigten Rahmen zu. Sobald sie im Krankenhaus fertig waren, wollten sie das Foto in ein Rahmengeschäft in Southampton bringen, um es neu rahmen zu lassen. Ruth begann wieder zu weinen, weil sie das Foto nicht in dem Geschäft lassen wollte. Eddie erklärte ihr, es brauche ein neues Passepartout, einen neuen Rahmen und ein neues Glas.
»Was ist ein Passetout?« fragte Ruth.
Als Marion ihr das blutbespritzte Passepartout (ohne das Foto) zeigte, wollte Ruth wissen, warum die Blutflecken nicht rot waren; sie waren getrocknet und braun geworden.
»Werde ich auch braun?« fragte Ruth. »Muß ich sterben?«
»Nein, du wirst nicht braun, Schätzchen. Und sterben mußt du auch nicht«, versicherte Marion ihr ein ums andere Mal.
Natürlich schrie Ruth bei den Spritzen und beim Nähen – es waren nur zwei Stiche erforderlich. Der Arzt staunte über den schnurgeraden Schnitt, der das oberste Glied des rechten Zeigefingers genau halbierte. Für einen Chirurgen wäre es selbst mit einem Skalpell so gut wie unmöglich gewesen, bei einem so kleinen Finger haargenau in der Mitte einen Schnitt zu machen.
Nachdem sie das Foto im Rahmengeschäft abgegeben hatten, saß Ruth ermattet auf dem Schoß ihrer Mutter. Eddie fuhr nach Sagaponack zurück; er mußte die Augen zusammenkneifen, weil ihm die Morgensonne ins Gesicht schien. Marion klappte die Sonnenblende über dem Beifahrersitz herunter, aber Ruth war so klein, daß ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien und sie sich zu ihrer Mutter hin umdrehte. Plötzlich starrte Marion in die Augen ihrer Tochter, vor allem in Ruths rechtes Auge.
»Was ist los?« fragte Eddie. »Hat sie was im Auge?«
»Ach, nichts«, sagte Marion.
Ruth kuschelte sich an ihre Mutter, die ihr Gesichtchen mit der Hand vor der Sonne schützte. Erschöpft vom vielen Weinen, schlief Ruth ein, bevor sie
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