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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Coleschen Haus. Wenn sie dieses Foto dort berührte, konnte sie sich dann am Glas schneiden? Wenn sie das da fallen ließ, war es auch aus Glas und würde brechen? Warum brach Glas überhaupt? Und wenn man sich an Glas schneiden konnte, warum hatte man dann überhaupt Glas im Haus?
    Noch bevor Ruth ihre hartnäckigen Fragen zu stellen begann, war die zweite Augusthälfte angebrochen; nachts wurde es merklich kühler. Sogar im Kutscherhaus ließ es sich jetzt angenehm schlafen. Eines Nachts, als Eddie und Marion dort schliefen, vergaß Marion, das Oberlicht mit dem Handtuch abzudecken. Frühmorgens wurden sie von einer dicht über das Haus hinwegfliegenden Schar Gänse geweckt. Marion sagte: »Ziehen sie schon nach Süden?« Den Rest des Tages sprach sie weder mit Eddie noch mit Ruth.
    Ted überarbeitete Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen von Grund auf; fast eine Woche lang legte er Eddie jeden Morgen eine völlig umgeschriebene Version auf den Tisch. Eddie tippte das Manuskript noch am selben Tag ab; am nächsten Morgen erhielt er dann Teds umgearbeitete Fassung zurück. Kaum begann Eddie, sich wirklich wie ein Schriftstellerassistent zu fühlen, als der Schreibprozeß auch schon beendet war. Eddie bekam Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen erst nach der Veröffentlichung wieder zu Gesicht. Ruth mochte von allen Büchern ihres Vaters dieses am liebsten, Eddie hingegen mochte es nie besonders; er hatte zu viele Textversionen miterlebt, um die endgültige Fassung würdigen zu können.
    Eines Tages, kurz bevor die Fäden aus Ruths Finger entfernt wurden, war in der Post ein dicker Briefumschlag von Eddies Vater. Er enthielt die Namen und Adressen sämtlicher in den Hamptons lebender Exonianer; tatsächlich handelte es sich um dieselbe Liste, die Eddie bei der Überquerung des Long Island Sound auf der Fähre weggeworfen hatte. Jemand hatte das mit der Absenderadresse der Phillips Exeter Academy bedruckte Kuvert mit dem in säuberlicher Handschrift hinzugefügten Namen O’Hare gefunden – jemand von der Putzkolonne oder von der Besatzung oder irgendein neugieriger Mensch, der den Abfall durchwühlt hatte. Wer immer der Blödmann gewesen war, er hatte Minty die Liste zurückgeschickt.
    »Du hättest mir mitteilen sollen, daß du sie verloren hast«, schrieb Eddies Vater. »Ich hätte dir die Namen und Adressen kopiert und sie dir noch einmal geschickt. Zum Glück hat jemand ihren Wert erkannt. Eine bemerkenswert freundliche Geste, und das in einer Zeit, in der freundliche Gesten selten geworden sind. Wer es auch war, ob Mann oder Frau, wollte nicht einmal das Porto erstattet haben! Es muß an dem Namen Exeter liegen – auf dem Kuvert, meine ich. Ich habe immer gesagt, daß man den Einfluß des guten Namens der Academy gar nicht zu hoch einschätzen kann …« Minty wies Eddie darauf hin, daß er noch einen Namen und eine Adresse hinzugefügt hatte: Ein Exonianer aus dem nahe gelegenen Wainscott hatte auf der ursprünglichen Liste aus irgendeinem Grund gefehlt.
    Auch für Ted war es eine aufreibende Zeit. Ruth behauptete, ihr genähter Finger verursache ihr Alpträume; die meisten Alpträume hatte sie in den Nächten, in denen Ted im Haus schlief. Eines Nachts schrie sie unablässig nach ihrer Mutter; sie wollte sich nur von ihrer Mutter – oder, zu Teds Erbitterung, Eddie – trösten lassen. Ted mußte die beiden im Kutscherhaus anrufen und sie bitten herzukommen. Anschließend mußte Eddie ihn ins Kutscherhaus bringen, wo, wie Eddie sich einbildete, noch die Kuhlen von seinem und Marions Körper zu sehen (wenn nicht gar warm) waren.
    Als Eddie in das Haus in der Parsonage Lane zurückkehrte, brannten im ersten Stock alle Lichter. Ruth konnte nur dadurch beschwichtigt werden, daß Marion sie von Foto zu Foto trug. Eddie erbot sich, den Rundgang mit ihr zu beenden, damit Marion wieder ins Bett gehen konnte, aber Marion schien es zu genießen; ihr war bewußt, daß es wahrscheinlich die letzte Runde durch die fotografierte Vergangenheit ihrer toten Söhne sein würde, die sie mit ihrer Tochter auf dem Arm machte. Marion zog die Geschichten, die jedes Bild begleiteten, sogar noch in die Länge. Eddie schlief, bei geöffneter Tür, in seinem Zimmer ein; eine Zeitlang hörte er noch Ruths und Marions Stimmen.
    Die Frage des Kindes verriet Eddie, daß sie sich das Foto (im mittleren Gästezimmer) ansahen, auf dem Timothy mit Dreck beschmiert war und weinte. »Was

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