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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Sagaponack erreichten.
    »Was hast du gesehen?« fragte Eddie Marion, deren Blick wieder geistesabwesend war (wenn auch nicht so weit weg wie in der vergangenen Nacht, als Eddie sie nach dem Unfall ihrer Söhne gefragt hatte). »Sag es mir«, forderte er sie auf.
    Marion deutete auf den Fleck in der Iris ihres rechten Auges, jenes gelbe Sechseck, das Eddie so oft bewundert hatte; mehr als einmal hatte er ihr gesagt, daß er dieses winzige gelbe Pünktchen in ihrem Auge liebe – die Art, wie es je nach Lichteinfall bewirkte, daß die Farbe ihres rechten Auges von Blau zu Grün wechselte.
    Ruths Augen waren zwar braun, aber Marion hatte in der Iris ihres rechten Auges genau den gleichen sechseckigen, hellgelben Fleck entdeckt. Als Ruth, von der Sonne geblendet, geblinzelt hatte, war deutlich zu sehen gewesen, daß sich durch das gelbe Sechseck die Farbe von Ruths rechtem Auge von Braun in Bernsteingelb verwandelte.
    Marion drückte ihre schlafende Tochter an ihre Brust; mit einer Hand schirmte sie ihr Gesichtchen ab. Eddie hatte noch nie erlebt, daß Marion Ruth gegenüber soviel körperliche Zuneigung zeigte.
    »Der Fleck in deinem rechten Auge ist sehr … ungewöhnlich«, meinte Eddie. »Wie ein Muttermal, nur viel geheimnisvoller …«
    »Das arme Kind!« unterbrach ihn Marion. »Ich will nicht, daß sie so wird wie ich!«
    Mrs. Vaughn wird fallengelassen

    In den folgenden fünf oder sechs Tagen, bis die Fäden entfernt wurden, durfte Ruth nicht an den Strand. Die lästige Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Wunde trocken blieb, machte die Kindermädchen reizbar. Eddie bemerkte eine zunehmende Verdrossenheit in der Art und Weise, wie Ted und Marion miteinander umgingen; sie waren sich immer aus dem Weg gegangen, aber jetzt sprachen sie gar nicht mehr miteinander und sahen sich nicht einmal an. Wenn sich einer über den anderen beklagen wollte, beklagte er sich bei Eddie. Zum Beispiel war nach Teds Ansicht Marion schuld an Ruths Verletzung, obwohl Eddie ihm wiederholt erklärt hatte, daß er es war, der Ruth das Bild gegeben hatte.
    »Darum geht es nicht«, meinte Ted. »Es geht darum, daß du überhaupt nicht in ihr Zimmer hättest gehen sollen, das ist die Aufgabe ihrer Mutter.«
    »Ich habe dir doch gesagt, daß Marion geschlafen hat«, log Eddie.
    »Das bezweifle ich«, entgegnete Ted. »Ich bezweifle, daß ›schlafen‹ Marions Zustand zutreffend beschreibt. Ich vermute eher, daß sie Schlagseite hatte.«
    Eddie war nicht ganz sicher, was Ted damit meinte. »Sie war nicht betrunken, falls du das meinst.«
    »Ich habe nicht behauptet, daß sie betrunken war. Sie ist nie betrunken«, meinte Ted. »Ich habe gesagt, sie hatte Schlagseite. Oder stimmt das etwa nicht?«
    Eddie wußte nicht, was er sagen sollte. Er berichtete Marion von dem Gespräch.
    »Hast du ihm gesagt, weshalb?« wollte sie von ihm wissen. »Hast du ihm gesagt, wonach du mich gefragt hast?«
    Eddie war entsetzt. »Nein, natürlich nicht.«
    »Dann sag es ihm«, rief Marion.
    Eddie erzählte Ted also, was geschehen war, als er Marion nach dem Unfall gefragt hatte. »Vermutlich habe ich ihr die Schlagseite beigebracht«, erklärte Eddie. »Ich sage es dir noch einmal, das Ganze ist meine Schuld.«
    »Nein, es ist Marions Schuld«, beharrte Ted.
    »Ach, wen interessiert es schon, wessen Schuld es ist?« sagte Marion zu Eddie.
    »Mich interessiert es«, sagte Eddie. »Schließlich habe ich Ruth erlaubt, das Bild mit in ihr Zimmer zu nehmen.«
    »Sei nicht albern, es geht doch überhaupt nicht um das Bild«, widersprach Marion. »Das Ganze hat nichts mit dir zu tun, Eddie.«
    Für den Jungen war es ein Schlag, als er begriff, daß sie recht hatte. Er steckte mitten in der (wie sich herausstellen sollte) wichtigsten Beziehung seines Lebens; und dennoch hatte das, was sich zwischen Ted und Marion abspielte, nichts mit ihm zu tun.
    Unterdessen fragte Ruth jeden Tag nach dem Foto; jeden Tag wurde im Rahmengeschäft in Southampton angerufen, aber jetzt in der Hauptsaison hatte man dort Wichtigeres zu tun, als ein einzelnes Foto mit einem Passepartout zu versehen und neu zu rahmen.
    Ob auf dem neuen »Passetout« auch Blutflecken sein würden, wollte Ruth wissen. (Nein, bestimmt nicht.) Ob der neue Rahmen und das neue Glas genauso aussehen würden wie der alte Rahmen und das alte Glas? (Ziemlich ähnlich.)
    Und jeden Tag und jeden Abend führte Ruth das jeweilige Kindermädchen oder ihre Mutter oder ihren Vater oder auch Eddie durch die Fotogalerie im

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