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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie sich anzusehen.
    Obenauf lagen die Porträts von Mrs. Vaughn und ihrem aggressiven kleinen Sohn. Den winzigen, fest zugekniffenen Mund, den sowohl Mutter als auch Sohn hatten, empfand Eddie als unschönes familiäres Merkmal. Außerdem besaßen beide die gleichen durchdringenden, ungeduldigen Augen; wenn sie nebeneinandersaßen, waren ihre Hände zu Fäusten geballt und lagen unbeweglich auf den Oberschenkeln. Wenn der Sohn auf dem Schoß seiner Mutter saß, hatte man den Eindruck, als wollte er sich jeden Moment mit Gewalt losreißen – es sei denn, sie, die ebenfalls auf dem Sprung schien, würde ihm zuvorkommen und dem Impuls nachgeben, ihn zu erwürgen. Es gab mindestens zwei Dutzend solcher Porträts, auf denen die chronische Unzufriedenheit dieser beiden Menschen und die zunehmende Spannung zwischen ihnen zum Ausdruck kamen.
    Es folgten die Zeichnungen von Mrs. Vaughn allein – anfangs vollständig bekleidet, aber unendlich allein. Eddie verspürte sogleich tiefes Mitleid mit ihr. Zwar war ihm gleich zu Anfang ihr verstohlenes Getue aufgefallen, das später einer Unterwürfigkeit gewichen war, die schließlich in Verzweiflung umschlug, doch wie todunglücklich diese Frau war, war ihm entgangen. Ted Cole hatte diesen Wesenszug eingefangen, noch bevor sie damit begonnen hatte, sich zu entkleiden.
    Die Aktzeichnungen nahmen ihren traurigen Verlauf. Anfangs blieben die Fäuste noch geballt auf den angespannten Schenkeln, und Mrs. Vaughn saß im Profil da, wobei häufig eine Schulter ihre kleinen Brüste verdeckte. Als sie sich endlich dem Künstler zuwandte, ihrem Zerstörer, hatte sie die Arme um den Leib geschlungen, um ihre Brüste zu verbergen, und ihre Knie waren fest zusammengepreßt; der Schritt war fast immer verborgen, und das Schamhaar, sofern man es überhaupt sah, nur mit hauchfeinen Strichen angedeutet.
    Dann stöhnte Eddie im geschlossenen Wagen auf; die späteren Aktzeichnungen von Mrs. Vaughn verbargen so wenig wie brutal-nüchterne Polizeifotos von einer Leiche. Ihre Arme hingen schlaff zu beiden Seiten herab, als hätte sie sich bei einem gewaltsamen Sturz beide Schultern ausgerenkt. Ihre ungeschützten und nicht gestützten Brüste hingen herab; die eine Brustwarze wirkte größer und dunkler und zeigte mehr nach unten als die andere. Ihre Knie fielen auseinander, als hätte sie jedes Gefühl in den Beinen verloren oder sich das Becken gebrochen. Der Nabel war zu groß für eine so kleine Frau und das Schamhaar zu üppig. Ihre klaffende Vagina war schlaff. Bei den letzten Aktzeichnungen handelte es sich um die ersten pornographischen Darstellungen, die Eddie zu Gesicht bekam, freilich ohne recht zu begreifen, was daran pornographisch war. Ihm war übel geworden, und er bereute es zutiefst, diese Zeichnungen gesehen zu haben, auf denen Mrs. Vaughn auf das Loch in ihrer Mitte reduziert war; mit diesen Aktzeichnungen hatte Ted es geschafft, daß von Mrs. Vaughn noch weniger übrigblieb als der intensive Geruch auf den Kissen im Kutscherhaus.
    Das Knirschen der erlesenen Kiesel in der Einfahrt, die zu dem imposanten Haus der Vaughns führte, hörte sich an, als würden unter den Reifen des Chevy kleine Tierknöchelchen zermalmt. Als Eddie an einem sprudelnden Springbrunnen in der kreisförmigen Auffahrt vorbeifuhr, bemerkte er, daß sich oben im Haus ein Vorhang bewegte. Als er an der Haustür klingelte, hätte er die Zeichnungen, die er mit beiden Armen an seine Brust drückte, um ein Haar fallen lassen. Er mußte endlos warten, bis die kleine, dunkelhaarige Frau aufmachte.
    Marion hatte recht gehabt: Mrs. Vaughn war noch nicht fertig angezogen – vielleicht befand sie sich auch noch nicht in dem Stadium des Ausgezogenseins, das sie anstrebte, um auf Ted anziehend zu wirken. Ihre Haare waren naß und glatt, und ihre Oberlippe sah aufgescheuert aus; in einem Mundwinkel hing, wie das Überbleibsel eines aufgemalten Clownsmundes, noch ein Rest der Enthaarungscreme, die sie hastig wegzuwischen versucht hatte. Auch bei der Wahl ihres Gewandes war sie überstürzt vorgegangen, denn nun stand sie in einem weißen Frotteegebilde in der Tür, das an ein überdimensionales, plumpes Handtuch erinnerte. Wahrscheinlich hatte sie den Bademantel ihres Mannes erwischt, denn das Ding hing ihr bis über die dünnen Knöchel; ein Zipfel streifte die Türschwelle. Sie war barfuß. Der feuchte Nagellack auf ihrer rechten großen Zehe war über den Fußrücken verschmiert, so daß es aussah, als hätte sie sich in

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