Witwe für ein Jahr (German Edition)
ebenfalls ein Grund dafür war, daß es nirgends ein offenes Fenster gab. Auf der Rückseite des Hauses führte eine Verandatür in den Garten, aber Mrs. Vaughn warnte Eddie, daß das Glas außergewöhnlich dick und mit einem feinmaschigen Drahtgeflecht verstärkt sei, das jedes Eindringen praktisch unmöglich mache. Mit einem großen Stein, den er in sein T-Shirt wickelte, gelang es Eddie schließlich, das Glas zu zerschmettern, doch dann mußte er erst noch eine Gartenschere suchen, um das Drahtgeflecht so weit aufzuschneiden, daß er eine Hand durch das Loch stecken und die Tür von innen aufschließen konnte. Von dem Steinbrocken, dem Mittelstück des Vogelbades im Garten, war Eddies T-Shirt schmutzig geworden, und von dem splitternden Glas hatte es Risse bekommen. Daher beschloß Eddie, T-Shirt und Stein bei den Glassplittern vor der aufgebrochenen Tür liegenzulassen.
Da Mrs. Vaughn barfuß war, bestand sie darauf, daß Eddie sie durch die Verandatür ins Haus trug; sie wollte nicht riskieren, sich an den Splittern zu schneiden. Er trug sie mit nackter Brust ins Haus, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß seine Hände nicht auf die falsche Seite des Bademantels gerieten. Mrs. Vaughn schien fast nichts zu wiegen, kaum mehr als Ruth. Doch als Eddie sie auf den Arm nahm, wenn auch nur für ein paar Sekunden, hätte ihr intensiver Geruch ihn um ein Haar überwältigt. Er war unbeschreiblich; Eddie hätte nicht sagen können, wonach diese Frau roch, nur daß ihn dieser Geruch zum Würgen brachte. Als er sie absetzte, spürte sie seinen unverhohlenen Abscheu.
»Du machst ein Gesicht, als würde ich dich anekeln«, erklärte sie. »Wie kannst du es wagen! Wie kannst du es wagen, mich zu verabscheuen!« Eddie stand in einem Raum, in dem er vorher noch nicht gewesen war. Er wußte nicht, wie er zu dem großen Kronleuchter in der Eingangshalle gelangen sollte, und als er sich umdrehte, um nach der Tür zum Garten Ausschau zu halten, sah er sich einem Labyrinth offener Türen gegenüber; er wußte nicht einmal mehr, durch welche Tür er soeben hereingekommen war.
»Wie komme ich hier raus?« fragte er Mrs. Vaughn.
»Wie kannst du es wagen, mich zu verabscheuen!« wiederholte sie. »Du führst selbst nicht gerade ein untadeliges Leben, habe ich recht?«
»Ich möchte nach Hause … bitte«, sagte Eddie. Erst als er es aussprach, wurde ihm bewußt, daß er es ernst meinte. Und daß er Exeter in New Hampshire meinte, nicht Sagaponack. Ihm wurde klar, daß er tatsächlich nach Hause wollte. Und wieder zeigte sich diese Schwäche, die ihn sein Leben lang begleiten sollte: Er fing vor älteren Frauen leicht zu weinen an; wie damals vor Marion, begann er jetzt vor Mrs. Vaughn zu weinen.
Wortlos ergriff sie sein Handgelenk und führte ihn durch ihr museumsartiges Haus zu dem Lüster in der Eingangshalle. Ihre kleine, kalte Hand fühlte sich an wie eine Vogelkralle; Eddie kam es vor, als packte ihn ein winziger Papagei oder Sittich. Als sie die Haustür öffnete und ihn in den Wind hinausschob, knallten weiter innen im Haus mehrere Türen zu, und als er sich umdrehte, um sich zu verabschieden, sah er, wie ein plötzlicher Windstoß Teds schreckliche Zeichnungen aufwirbelte und vom Eßtisch fegte.
Weder Eddie noch Mrs. Vaughn brachten ein Wort heraus. Als sie die Zeichnungen hinter sich zu Boden flattern hörte, fuhr sie in ihrem viel zu großen, weißen Morgenrock herum, als rechnete sie damit, angegriffen zu werden. Noch ehe der Wind die Haustür ein zweites Mal zuknallte, erlebte Mrs. Vaughn in der Tat einen Angriff. Bestimmt erkannte sie in diesen Zeichnungen zumindest teilweise, in welchem Ausmaß sie sich psychisch hatte angreifen und vergewaltigen lassen.
»Sie hat Steine nach dir geworfen?« fragte Marion ungläubig.
»Es waren Kiesel, aber die meisten haben den Wagen getroffen«, gab Eddie zu.
»Sie hat dich gezwungen, sie ins Haus zu tragen?« fragte Marion.
»Sie war barfuß«, erklärte Eddie. »Und überall lagen Glassplitter!«
»Und dein T-Shirt hast du dort gelassen? Weshalb denn?«
»Es war völlig ruiniert, außerdem war es nur ein T-Shirt.«
Teds Unterhaltung mit Eddie verlief etwas anders.
»Was hat sie damit gemeint, daß sie am Freitag ›den ganzen Tag‹ Zeit hat?« fragte Ted. »Erwartet sie etwa, daß ich den ganzen Tag mit ihr verbringe?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und weshalb hat sie geglaubt, du hättest dir die Zeichnungen angesehen?« wollte Ted wissen. »Hast du? Hast du sie dir
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